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Wie Boll die ersten Tage in Tischtennisrente erlebte

Timo Boll muss sich an sein neues Leben erst einmal gewöhnen (©BeLa Sportfoto)

21.08.2025 - Die letzte Saison in der TTBL war für Timo Boll eine ganz besondere. Wie der Rekord-Europameister seinen Abschied und die ersten Tage danach erlebte, mit welchem Gefühl er auf seine Karriere zurückblickt und wie es für ihn jetzt weitergeht, das ist in der aktuellen Ausgabe des Magazins tischtennis zu lesen – und jetzt auch hier auf myTischtennis.de. Für User, die das Magazin kennenlernen möchten, veröffentlichen wir künftig einmal im Monat einen Beitrag aus dem aktuellen Heft in voller Länge.

Als Timo Boll am Morgen des 16. Juni nach Hause kommt und seine Sporttasche abstellt, realisiert er erst so richtig: Es ist vorbei. „Ich habe die Tasche an ihren gewohnten Platz gestellt“, erzählt Boll, „und dann gedacht, dass sie da eigentlich nicht mehr zu stehen braucht, ich sie auch wegpacken kann.“ Ähnliche Situationen hätten ihm auch an den folgenden Tagen bewusst gemacht, dass das Ende seiner Karriere nun tatsächlich gekommen sei – fast 30 Jahre, nachdem er den Sport zu seinem Beruf gemacht und hernach eine Weltkarriere hingelegt hatte, wie es sie im deutschen Tischtennis noch nicht gab.

Karriereende mit langem Vorlauf

Boll hatte viel Zeit, sich auf diesen Moment vorzubereiten. Schon im Frühjahr 2024 hatte er entschieden, dass er international nach den Olympischen Spielen in Paris aufhört und die anschließende Spielzeit in der TTBL seine letzte sein wird. Dennoch dauerte es nach dem TTBL-Finale gegen Ochsenhausen Mitte Juni, bis es sich setzte, dass er jetzt kein Tischtennis-Profi mehr ist. Er habe sich in den Tagen nach dem Endspiel öfter dabei ertappt, „noch wie ein Sportler zu denken“, sagt Boll. Beim Tennisspielen mit Ehefrau Rodelia etwa habe er noch immer die Vorhand nicht richtig durchgezogen. Und er sei mit der linken Hand immer noch vorsichtig gewesen, wenn er schwer zu heben hatte. „Ich habe in den letzten Jahren immer sehr auf meinen Körper geachtet. Es dauert wahrscheinlich, diese Routinen rauszukriegen“, sagt Boll.

Den Endpunkt seiner langen Laufbahn markierte Spiel 406 im Trikot von Borussia Düsseldorf. Für die Rheinländer spielte Boll die vergangenen 18 seiner insgesamt 29 Jahre in der TTBL. Und der Rahmen für den Abschied hätte passender nicht sein können: Noch einmal spielte der Linkshänder mit seiner Borussia um einen Titel – und das unweit seiner Heimat Höchst, vor großer Kulisse. Viele Weggefährten kamen nach Frankfurt in die Süwag Energie Arena, etwa aus seinen früheren Vereinen TSV Höchst und TTV Gönnern, ebenso etliche prominente Sportler, zu denen Boll im Laufe der Jahre freundschaftliche Bande geknüpft hat, u.a. Handball-Weltmeister Christian Schwarzer, Fecht-Olympiasiegerin Britta Heidemann, Schwimm-Weltmeisterin Franziska van Almsick und, natürlich, Dirk Nowitzki. Die Basketball-Legende gehört zu Bolls besten Freunden. Am Rand der Box saßen in Frankfurt auch seine Nationalmannschaftskollegen Patrick Franziska, Ricardo Walther und Dimitrij Ovtcharov, der unlängst betont hatte, dass er es ohne Boll wohl selbst nie so weit gebracht hätte. „Dass die Jungs sich bei der Hitze drei Stunden ins Auto gesetzt haben, weiß ich sehr zu schätzen. Ich weiß ja, wie wichtig ihnen ein freier Sonntag ist“, sagt Boll. Auch sein Vater Wolfgang und seine Frau Rodelia weilten unter den Zuschauern, Tochter Zoey verfolgte das Spiel mit ihren Vereinskolleginnen und -kollegen vom TSV Höchst von der Tribüne aus. Die Elfjährige spielt im Heimatverein ihres Vaters, der zuletzt schon öfter bei ihren Spielen dabei war – und das künftig noch häufiger sein will. „Für mich war es sehr schön, dass sie dieses Spiel miterlebt hat. Und ich glaube, für sie war das auch sehr emotional, da sind ein paar Tränchen geflossen“, sagt Boll.

Besondere Momente, warme Worte und Geschenke

Auch bei ihm selbst flossen viele Tränen – bei der Verabschiedung nach dem TTBL-Finale, aber auch bei anderen Anlässen in den Monaten zuvor. Bei den Olympischen Spielen etwa oder seinem letzten Turnier in China, aber auch bei einigen TTBL-Spielen. Fast alle gegnerischen Vereine hatten sich für den Tag, an dem sie Timo Boll zum letzten Mal in ihrer Halle empfingen, etwas Besonderes einfallen lassen, Boll wurde mit vielen warmen Worten und Geschenken bedacht. „Als ich gesagt habe, dass ich noch ein Jahr bei der Borussia spiele und sozusagen auf Abschiedstour gehe, habe ich mir das doch etwas entspannter vorgestellt“, sagt Boll. „Aber dass es dann noch mal so ein großartiges Jahr wird, so viele besondere Momente dadurch entstehen, hätte ich auch nicht gedacht“, so der Rekord-Europameister. Dankbar sei er, sagt Boll. „Welcher Sportler erlebt schon sowas?“

Wie sehr der 44-Jährige von Deutschlands Tischtennis-Fans geliebt wird, machte sich auch in den Zuschauerzahlen seiner letzten Saison bemerkbar. Zu Düsseldorfs Auswärtsspielen kamen im Schnitt fast 900 Besucher, die Heimspiele der Borussia waren ab November alle ausverkauft. Dass die TTBL in der Saison 2024/25 einen neuen Zuschauerrekord verzeichnete, war in großen Teilen Bolls Verdienst. Und so war es nur logisch, dass in Bolls letztem Spiel auch ein Rekord fiel: Die Nachfrage nach den Tickets war so groß, dass die TTBL mehrfach die Kapazitäten erweiterte. Letztlich kamen 5.000 Menschen – so viele wie nie zuvor im Play-off-Finale. Sie feierten Boll schon vor dem ersten Aufschlag – und wurden dann Zeuge eines dramatischen letzten Karriere-Einzels. Boll wurde von Ochsenhausens WM-Zweitem Hugo Calderano zunächst vorgeführt, biss sich nach 0:2 aber ins Match zurück, schien im fünften Satz bei 5:1-Vorsprung auf bestem Wege zum Sieg – und verlor den Durchgang noch 9:11.

„Gänsehaut bis zum Gehtnichtmehr“

„Als Timo 9:8 im fünften Satz vorne lag, hatte ich Gänsehaut bis zum Gehtnichtmehr. Ich dachte, wenn er das gewinnt, reißen die Fans die ganze Halle ab“, sagt Borussia-Manager Andreas Preuß. Es habe sehr wehgetan, dass es nicht so gekommen sei, „aber ich fand es erstaunlich, dass Timo sich überhaupt noch mal in diese Situation gebracht hat“. Auf der Zielgeraden seiner Karriere spielte Boll noch mal groß auf. Das war ihm im Verlauf der Saison nicht mehr durchgängig gelungen. „Ich habe mich teilweise in die Halle gequält. Es fiel mir schwer, im Training ans Limit zu gehen“, gesteht er. Das machte sich auch an den Ergebnissen bemerkbar. Dass Boll nach den Olympischen Spielen, wo seine internationale Karriere mit einem enttäuschenden Viertelfinal-Aus gegen Schweden im Team-Wettbewerb zu Ende gegangen war, Probleme hatte, sich für das letzte Jahr in der Liga zu motivieren, konnte ihm keiner verdenken. In Düsseldorf war man froh, dass Boll seinen Vertrag überhaupt erfüllte. Auf die Idee, um eine vorzeitige Vertragsauflösung zu bitten, sei er aber nicht gekommen, sagt Boll, „das wäre auch nicht ich gewesen“. 

Den Tiefpunkt seiner kleinen Nach-Olympia-Krise erreichte Boll Ende Oktober im Match gegen Ochsenhausen. Sowohl Hugo Calderano als auch Shunsuke Togami unterlag er sang- und klanglos mit 0:3 Sätzen. „Nach dem Spiel hat er sich bei uns entschuldigt“, erzählt Preuß. Er habe Trainer Danny Heister mehrfach angeboten, ihn auf die Bank zu setzen, sagt Boll, „es war ja auch für die Zuschauer kein Vergnügen mehr“. Doch Boll bekam die Kurve rechtzeitig. 13:13 lautete seine TTBL-Bilanz nach den Play-offs. Der Hesse sagt, er habe besonders in den letzten Wochen noch mal richtig Spaß gehabt, im Training an die Grenzen zu gehen. Die Aussicht, im TTBL-Finale auf einen so starken Gegner zu treffen, und das in einem Spiel, in dem er vielleicht mehr denn je im Fokus steht, habe ihn getrieben. „Am Ende war ich happy, noch mal eine anständige Leistung gezeigt zu haben.“ Auch im Champions-League-Finale zwei Wochen zuvor hatte er gegen Darko Jorgic dicht vorm Sieg gestanden. Am Ende aber mussten Boll und Teamkollegen sich in beiden Wettbewerben mit Platz zwei begnügen. „Ein Filmregisseur hätte das Ende wahrscheinlich anders inszeniert“, bedauerte Preuß, „aber wir sind ja nicht in Hollywood“. Doch auch ohne Happyend endete die gemeinsame Story von Borussia Düsseldorf und Timo Boll äußerst erfolgreich. 31 Titel gewann der Linkshänder bei und mit den Rheinländern.

Starke Einschränkungen

In die Tischtennis-Rente geht Boll zudem mit neun WM-Medaillen, 20 EM-Titeln, vier Olympia-Medaillen, zwei World-Cup-Siegen, als EM- und DM-Rekordsieger – und als erster Deutscher, der an der Spitze der Weltrangliste stand. In Bolls Sammlung fehlen eigentlich nur ein WM-Titel und eine Olympia-Einzelmedaille. Ein Makel, der für Bundestrainer Jörg Roßkopf keiner ist: „Ich habe Timo immer gesagt, dass er eine so große Karriere hatte – was interessiert da diese Einzel-Medaille?“ Im Einzel habe es bei Olympia nun mal nie gepasst, so Roßkopf. Dafür führte Boll das deutsche Herren-Team bei Olympischen Spielen zu vier Medaillen, „und die Erfolge mit der Mannschaft fand ich ohnehin immer am schönsten“, sagt Boll, „auch wenn man in der Öffentlichkeit mehr Anerkennung für Erfolge als Einzelsportler bekommen hat“. Ein bisschen mehr wäre vielleicht noch möglich gewesen, wenn Bolls Körper nicht anfällig gewesen wäre – allein vier Weltmeisterschaften verpasste er verletzungsbedingt, zwei weitere WM-Turniere brach er erkrankt ab. Zuletzt streikte Bolls Körper immer häufiger, 2020 so sehr, dass er damals schon daran dachte, seine Karriere zu beenden. Zu der Zeit plagten ihn zwei Ödeme am Rücken, die so starke Schmerzen auslösten, dass er keine Treppe mehr runtergehen konnte und selbst beim Gang auf die Toilette Hilfe brauchte. „Das sind schon so Einschränkungen auch im normalen Leben, die einen überlegen lassen, ob es das noch wert ist.“ 

Öfter habe er gedacht, dass er aufhöre, „wenn das noch drei Tage so weitergeht“. Letztlich kam Boll die coronabedingte Verlegung der Olympischen Spiele gelegen. Er kurierte die Verletzung vollständig aus und erlebte anschließend noch mal ein Hoch. 2021 wurde er zunächst erneut Einzel-Europameister, holte dann mit dem Team Olympia-Silber und gewann im Anschluss seine zweite WM-Einzelmedaille. In dieser Phase knackte Boll auch erneut einige Altersrekorde – oder verbesserte Rekorde, die er zuvor schon aufgestellt hatte, wie den als ältester Einzel-Europameister. Bis heute ist der gebürtige Erbacher auch der älteste Spieler, der je die Tischtennis-Weltrangliste anführte. 2018 kletterte er zum insgesamt vierten Mal an die Spitze des Rankings, wenige Tage vor seinem 37. Geburtstag. Als bester Spieler der Welt habe er sich dennoch nie gefühlt, sagt der 44-Jährige: „Die Chinesen waren gefühlt eigentlich immer besser.“ Dass sein Traum von WM-Gold unerfüllt blieb, war auch der Tatsache geschuldet, dass er sich in den Hochphasen seiner Karriere immer mit extrem starken chinesischen Generationen konfrontiert sah. „Aktuell sind die Chinesen angreifbar. Aber damals hatten sie meist fünf, sechs Spieler auf sehr hohem Niveau. Und von denen waren dann immer mindestens ein, zwei in Topform“, sagt er.

Ziel: ein anständiger Bundesligaspieler werden

Mit seiner Karriere ist Boll dennoch im Reinen. Nie habe er erwartet, auch nur annähernd so erfolgreich zu werden. „Als wir die Entscheidung getroffen haben, dass ich mit 16 ein Jahr aus der Schule gehe, war das Ziel, dass ich ein anständiger Bundesligaspieler werde. Ich habe nie vergessen, dass das eigentlich der Anspruch war“, sagt Boll. Sehr dankbar sei er, „dass es so viel besser gelaufen ist, ich so viele schöne Momente erleben durfte“. Dass Boll auch über die Grenzen des Tischtennissports hinaus viel Anerkennung erfuhr und als einer der größten deutschen Sportler der vergangenen Jahrzehnte in Erinnerung bleiben wird, liegt nicht allein an seinen Erfolgen am Tisch – sondern auch daran, dass er Zeit seiner Karriere so bescheiden und bodenständig blieb. „Als Mensch hätte er mehrere Goldmedaillen verdient, für sein Wirken im Verein, in die Gesellschaft hinein. Er hat sich nie über andere gestellt“, sagt Düsseldorf-Manager Andreas Preuß. Boll war der Inbegriff eines fairen Sportsmanns, hat in seiner Karriere diverse Fairplay-Preise gewonnen. „Tischtennis ist meine große Liebe“, lautet ein viel zitierter Satz Bolls, „und eine große Liebe betrügt man nicht“.

Und eine große Liebe, die verlässt man auch nicht so einfach. Eine Trainer-Laufbahn kommt für Timo Boll nicht infrage, doch dem Tischtennissport bleibt er dennoch erhalten. Er übernimmt die neu geschaffene Rolle als Botschafter des deutschen Tischtennis, in der er sich für die Weiterentwicklung und öffentliche Sichtbarkeit des deutschen Tischtennissports einsetzen soll. Seinen ersten Einsatz hat er im August bei den andro Kids Open in Düsseldorf. Boll bleibt zudem Botschafter des Caravaning Industrie Verbands – und in Kürze wird auch noch eine Aufgabe bei seinem Lieblings-Fußballklub hinzukommen. Mit Borussia Dortmund sei er in Gesprächen, bestätigt Boll. Für die Rolle als Asien-Repräsentant scheint er wie geschaffen, der 44-Jährige betonte in verschiedenen Interviews aber auch, er könne sich ein Praktikum beim BVB vorstellen. „Ich bin selbst gespannt, was jetzt noch alles kommt“, sagt Boll über seine Zukunft. Klar ist, dass er weiter sportlich aktiv bleiben will. In der Woche nach dem TTBL-Finale, erzählt Boll, habe er viel Golf gespielt, „und abends habe ich mich dann bei meiner Frau beschwert, dass ich doch auch mal wieder richtig Sport machen müsste. Sie meinte dann: Guck mal auf deine Uhr, du hast heute 25.000 Schritte gemacht – das ist auch Sport.“ Daran, seinen Körper nicht mehr ständig an die Belastungsgrenze zu treiben, werde er sich erst gewöhnen müssen. „Dieses neue, leichte Leben, ohne sich ständig zu quälen“, sagt Timo Boll nach den ersten Tagen im Ruhestand, „ist jedenfalls ganz anders“.

Hier finden Sie alle Infos zum Magazin tischtennis sowie die aktuelle Ausgabe, die alle Vereinsspieler in Deutschland in der E-Paper-Variante kostenlos lesen können.

(Susanne Heuing)

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