WM 2018

Jörg Bitzigeio: „Riesenveränderung in allen Bereichen“

In Düsseldorf war er 2017 noch an der Bande zu sehen, in Halmstad beobachtet Jörg Bitzigeio die Spiele von der Tribüne aus (©Fabig)

06.05.2018 - Seit etwa einem Jahr ist Jörg Bitzigeio nun schon Sportdirektor des US-amerikanischen Tischtennisverbandes. Keine Frage, dass er auch bei der Team-WM in Halmstad dabei ist und den US-Boys und -Girls unter die Arme greift. Im Interview erzählt der ehemalige Damen-Bundestrainer, was er in den USA verändern will, wie seine Ideen dort angenommen werden und was für ein Potenzial Tischtennis in Amerika hat.

myTischtennis.de: Das letzte Mal haben wir bei der WM in Düsseldorf miteinander gesprochen - damals warst du kurz davor, nach Amerika zu ziehen, um dort deinen neuen Job als Sportdirektor des US-amerikanischen Tischtennisverbandes anzutreten. Inzwischen lebst du fast ein Jahr dort. Was gefällt dir und was war in Deutschland besser?

Jörg Bitzigeio: Was mir mit am besten dort gefällt, ist das Klima und die Helligkeit. Wir leben in Colorado Springs, es gibt zwar vier Jahreszeiten, wir haben aber trotzdem 300 Tage Sonne. Das wirkt sich unglaublich positiv aufs Gemüt aus. Ansonsten ist es einfach ein unheimlich spannendes Land, das ich jetzt langsam erst mal kennenlerne. Der Amerikaner ist natürlich anders als der Deutsche, mit allen Vor- und Nachteilen. Es ist eher schwer, zu vergleichen, da dort vieles anders ist - aber ich kann es nur empfehlen.

myTischtennis.de: Wenn man dich hier in Halmstad beobachtet, sitzt du während der Spiele immer auf der Tribüne - und nicht wie in Düsseldorf als Coach direkt an der Box. Wie würdest du deine Aufgaben beschreiben? Greifst du überhaupt direkt ins Sportliche ein oder bist du eher der übergeordnete Koordinator?

Jörg Bitzigeio: Also genau genommen, mache ich momentan alles. Für die Position, die ich gerade versuche, auszufüllen, hat man beim DTTB fünf bis sechs Leute. Meine Hauptaufgabe ist, als Sportdirektor Strukturen aufzubauen. Wir haben keine festangestellten Trainer, deshalb übernehme ich auch Traineraufgaben. Hier habe ich jetzt nicht gecoacht, weil mein Ziel ist, dass wir zu solchen Veranstaltungen künftig immer mit drei Personen fahren, wobei sich die beiden Coaches komplett auf die zwei Teams konzentrieren können und ich versuche, ihnen das Drumherum abzunehmen. Bei anderen Turnieren wie dem Pan-Am-Cup - das ist unser Qualifikationsturnier für den World Cup - nehme ich aber auch gleichzeitig die Aufgabe des Coaches ein. Wir arbeiten halt mit Honorartrainern zusammen und die stehen nicht immer zur Verfügung. Diesen Spagat muss ich momentan einfach machen. Wir sind dabei, viel zu entwickeln. Das ist ein langfristig angelegtes Projekt und das braucht seine Zeit, um sich zu entwickeln. Es macht mir aber auch einen Heidenspaß. Ab und zu bin ich schon auch noch mal ganz gerne an der Bande.

myTischtennis.de: Du hast lange im DTTB gearbeitet, jetzt lernst du einen anderen Verband kennen. Sind die fehlenden Strukturen, die du eben erwähntest, das, was den größten Unterschied ausmacht?

Jörg Bitzigeio: Naja, sie haben schon ein System, nur, wenn man deutsche Verhältnisse gewöhnt ist, hat man in der Beziehung halt noch viel Spielraum. Aber das ist auch der Reiz an der Sache. Es gibt dort unglaublich viele Möglichkeiten, Dinge zu entwickeln. Und ich habe in meinem Job die Freiheit, auszuprobieren, was ich will. Es gibt sehr viel Potenzial im Nachwuchsbereich, aber wir haben dort halt ein ganz anderes Trainingssystem, das bisher nur auf Privattraining basierte. Es gab so gut wie kein Gruppentraining, es gibt nur ganz wenige ausgebildete Trainer. Wir haben also ein unglaublich breites Feld, das es zu bearbeiten gilt, und manchmal ist es nicht so leicht, den Überblick zu behalten und zu entscheiden, wo man anfängt, da man nicht tausend Dinge auf einmal angehen kann. Man muss Geduld beweisen, was mir nicht immer leicht fällt, aber es ist auch ein Riesenspaß und bisher ein absoluter Traumjob für mich. Wir machen gerade so gut wie alles anders und es trifft im Land selber auch auf Zuspruch. Nicht nur, klar. Aber für mich ist in erster Linie wichtig, dass die Spieler verstehen, was wir vorhaben, und dahinterstehen.

myTischtennis.de: Wenn es so viele Dinge gibt, die bearbeitet werden könnten, was möchtest du dann jetzt als Erstes angehen?

Jörg Bitzigeio: Im Juli sind wir umgezogen und im September haben wir den ersten Lehrgang gemacht - seitdem hatten wir sechs oder sieben. Davor gab es gar keine gemeinsamen Lehrgänge, die besten Spieler haben nicht zusammen trainiert, weil der Konkurrenzgedanke im Vordergrund steht. National gesehen sind sie auch Konkurrenten, aber auf internationaler Ebene kämpfen wir gegen den Rest der Welt. Man fängt also erst mal bei grundlegenden Dingen an und versucht, Verständnis dafür zu bekommen. Warum sollte ich mit dem größten nationalen Konkurrenten trainieren? Weil ich von ihm profitieren kann! Und wenn wir irgendwo rausgehen, sind wir ein Team. So sind auch die Lehrgänge von Gruppentraining geprägt, was die Spieler so noch nicht kannten. Es ist also ein komplett neues Trainingssystem, das den Spielern aber auch Spaß macht - weil es schön ist, zusammen zu trainieren. Also hier spielt auch der soziale Aspekt eine große Rolle. Bisher kannten sie nur voneinander separierte Individualprogramme basierend auf ausschließlich Einzeltraining, von denen ich nicht glaube, dass sie zu großem Erfolg im Erwachsenenbereich führen werden. Ich habe eine junge Trainergruppe, die diesen Weg mitgeht und auch mit in die Vereine nimmt. Es findet eine Riesenveränderung in allen Bereichen statt.

myTischtennis.de: Die USA hatten sich auch als Veranstalter für die WM 2020 beworben, sich dann aber kurzfristig noch zurückgezogen. Wieso? Und habt ihr das in Zukunft trotzdem noch mal vor?

Jörg Bitzigeio: Die WM-Bewerbung basierte darauf, dass die WM mit einem reduzierten Teilnehmerfeld stattfinden würde. Irgendwann war abzusehen, dass der Antrag für 2020 nicht durchgeht. Inzwischen wurde entschieden, dass die WM ab 2022 kleiner wird. Eine Weltmeisterschaft des jetzigen Formats, mit 72 Mannschaften, lässt sich erstens schwierig stemmen und ist zweitens nicht unbedingt profitabel. Und in Amerika ist Sport auch viel Business, da wird knallhart gerechnet. Deshalb war 2020 nicht das richtige Event für uns, aber ich bin davon überzeugt, dass es nicht lange dauern wird, bis die Tischtenniswelt bei uns zu Gast ist.

myTischtennis.de: Hast du denn das Gefühl, dass Tischtennis in den USA ein Thema ist? Gibt es da eine öffentliche Aufmerksamkeit für den Sport?

Jörg Bitzigeio: Die gibt es schon. Mit Kanak Jha hatten wir jetzt die Nummer eins der U18-Weltrangliste - dank des neuen Systems, muss man dazu sagen. Aber wenn der Computer das so ausspuckt, ist das natürlich was, was wir nutzen und pushen. In Sachen Public Relations sind wir schon ganz gut. Dann haben wir in anderthalb Monaten die Senioren-WM mit an die 5000 Teilnehmern, das wird ein Riesending. Da ist natürlich auch viel Show dabei, aber das ist halt der ‚American way of life‘. Und ich glaube, dass man unsere Athleten, wie zum Beispiel Lily Zhang, auch in den Medien gut präsentieren kann. Also, da ist sicher Potenzial. Und wenn man mal den Leistungssport außer Acht lässt: Auch Google hat jetzt zwei hauptamtliche Trainer, die für die Angestellten da sind. Und es gibt auch andere Firmen im Silicon Valley, die sich dahin orientieren. Das ist halt auch eine Möglichkeit, den Sport nach vorne zu bringen.

myTischtennis.de: Zum Schluss aber noch mal zurück zur WM: Wie bewertest du euer Abschneiden hier? Bist du zufrieden?

Jörg Bitzigeio: Wir sind nicht mit irgendeiner Zahl im Kopf hier angereist. Die Damen sind als Nummer 24 der Setzungsliste gerade so in die erste Division gerutscht. Damit hatten sie schon nicht mehr viel zu verlieren. Und die Herren spielen hier das erste Mal in der zweiten Division - und das mit der jüngsten Mannschaft im ganzen Feld. Die konnten eigentlich auch nicht viel falsch machen. Mit den Damen haben wir uns nun mit Platz 13 sicher für die erste Division der nächsten WM qualifiziert, die Herren sind am Ende 33. geworden, was sich immer noch brutal weit weg anhört, aber wir sind vom 51. Platz gekommen und haben hier nur zwei Spiele verloren. Für mich war das mehr, als ich mir erträumt hatte. Aber selbst, wenn das Ergebnis anders ausgefallen wäre, war für mich vor allem wichtig, zu sehen, wie die Truppe hier agiert, ob sie angreift, ob sie sich nach zu erwartenden Niederlagen wieder schüttelt und schnell aufsteht. Und wie agieren sie als Mannschaft, die erstmals nicht durch ein Trials-System zusammengewürfelt wurde? Wir haben jetzt mal die Möglichkeit, Teams zu bilden, die langfristig zusammenspielen. Von daher alles gut, alle hatten Spaß, es war eine geile Woche. Und jetzt geht es wieder ans Arbeiten.

(JS)

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