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Kilians Blog: Nina wird sich Einzel-Gold noch holen

Kopf hoch, Nina! Wenn Kilian Ort Recht behält, wird Mittelham auch Einzel-Gold noch gewinnen (©ETTU)

29.08.2022 - Dass Kilian Ort Damentischtennis analysiert, kommt auch nicht alle Tage vor. Im Rahmen seines Blogs auf myTischtennis.de wollte sich der TTBL-Spieler des TSV Bad Königshofen allerdings ganz bewusst einmal nicht der EM-Performance seiner Nationalmannschaftskollegen, sondern den deutschen Damen widmen. Herausgekommen ist eine sehr lesenswerte Analyse, die die Leistungen von Nina Mittelham, Han Ying und Co. in München einmal von einer ganz anderen Seite aus betrachtet.

Als mich die myTischtennis-Redaktion vor wenigen Wochen gefragt hat, ob ich ein kleines Resümee über die Europameisterschaften von München schreiben möchte, hatte ich vorgeschlagen, mich diesmal auf das schöne Geschlecht zu fokussieren, wobei man im Nachhinein selbstverständlich auch über Dang Qiu schreiben könnte. Mit insgesamt sieben Spielerinnen hatte der DTTB das größte weibliche Aufgebot aller Verbände beisammen. Zu Han Ying, Shan Xiaona, Nina Mittelham, Sabine Winter und Yuan Wan, die Titelverteidigerin Petrissa Solja ersetzte, gesellten sich auch Annett Kaufmann und Franziska Schreiner, die sich ihre Plätze über ihre herausragenden Ergebnisse bei den zurückliegenden U21-Europameisterschaften ergattern konnten. Von erfahrenen Häsinnen über Damen im besten Tischtennisalter bis zu den jungen wilden Küken war demnach jede Generation vertreten. 

Treffen beim Orthopäden

Wenige Tage vor den ersten Qualifikationsrunden traf ich Han Ying. Soweit eigentlich nichts Ungewöhnliches – stellt Ying doch auch das ein oder andere Mitglied der Herrentrainingsgruppe regelmäßig vor einige Herausforderungen. Das Problem war allerdings, dass sich unsere Wege nicht im DTTZ, sondern in der Praxis unseres Mannschaftsorthopäden kreuzten. Die Schmerzen am Rücken, die sich kurz vor ihrer Achtelfinalpartie gegen Sabine Winter wieder intensivierten, waren also schon eine geraume Zeit zuvor präsent. Als ich wenige Tage später Yings O-Ton nach ihrer Erstrundenpartie gegen die Serbin Vignjevic las, dachte ich, dass alles wieder in bester Ordnung sei und einen kleinen Schmunzler konnte ich mir bei folgender Aussage nicht verkneifen: „Nach dem ersten Satz dachte ich mir, es würde schwieriger. Aber die letzten drei Sätze waren ganz okay.“ Bei einem 11:5, 11:1, 11:3, 11:2 kann man das schon mal locker sagen. Daraus Überheblichkeit abzuleiten wäre aber falsch. Aufgrund ihrer Schnittwechsel im Abwehrspiel und ihrer sich stetig verbessernden Attacken ist Ying nicht nur setzungsmäßig die Nummer eins in Europa, sondern sie gehört auch zu der Kategorie Spielerin, die gegen mindestens 50% der - neben ihr - 63 sich im Hauptfeld befindenden Akteurinnen - überspitzt formuliert - auf einem Bein gewinnen würde. Das Problem der Defensivspezialisten liegt nur darin, dass es meist ein paar Angriffsspieler gibt, die ausgezeichnet gegen Abwehr spielen können und sich im direkten Aufeinandertreffen somit klar im Vorteil befinden – wenn die dann auch noch aus dem eigenen Stall kommen, wird’s doppelt schwer. 

Und da wären wir schon bei der Lokalmatadorin Sabine Winter, die Ying bereits wenige Wochen vor der EM im Finale der Deutschen Meisterschaften bezwingen konnte. Um Sabine als Abwehrspielerin Paroli bieten zu können, muss man sich körperlich topfit fühlen, um immer wieder gezielte Angriffe mit ins Spiel einzubauen – und das war Ying nun mal nicht. Ob Ying gegen eine Irina Ciobanu trotz Rückenschmerzen einen Versuch gewagt hätte, ins Viertelfinale einzuziehen, kann sie letztendlich nur selbst beantworten. Ohne die Schwere der Verletzung beurteilen zu können, würde ich, wenn ich mir eine Spekulation erlauben dürfte, zumindest davon sprechen, dass die Chancen, Europas Ranglistenbeste in der Box zu sehen, größer gewesen wären, wenn die Kontrahentin nicht Winter geheißen hätte. 

Medaille von Herzen gegönnt

Selbstverständlich habe ich bei Weitem nicht alle Spiele der EM verfolgen können. Nichtsdestotrotz habe ich einige unter die Lupe genommen und als besonders interessant empfand ich die Zweitrundenpartie von Sabine Winter gegen die bereits erwähnte Rumänin Irina Ciobanu. Das war aus deutscher Sicht eines der Spiele, die eigentlich schon verloren waren. Die Qualifikantin war hervorragend auf Sabines Spielsystem eingestellt, behielt die taktische Marschroute über weite Teile des Matches bei und traf auch schwierige Bälle, während bei Sabine relativ wenig funktionierte: Der eigentliche „Haus- und Hofball“ – der Vorhandtopspin aus allen Lagen – hatte eine ungewohnt hohe Fehlerquote, dazu gesellten sich mittelgroße Rückschlagprobleme und die Rückhand hatte sie zu dem Zeitpunkt wohl noch in ihrer nordrhein-westfälischen Wahlheimat vergessen. Das klingt jetzt erst mal nach hartem Tobak, doch kann ich diese Komplikationen als ein Spieler, der selbst sehr vorhandorientiert agiert, bestens nachempfinden. Worauf ich eigentlich hinaus will, ist eine ganz andere Sache: Ich hatte sieben Sätze lang das Gefühl, dass Sabine richtig Bock hat. Ich hatte sieben Sätze lang das Gefühl, dass Sabine sich in dem Court wohl fühlt, (auch wenn ich mir vorstellen kann, dass es in ihr ganz anders aussah). Und ich hatte sieben Sätze lang das Gefühl, dass Sabine alles gibt, um das relativ frühe Ausscheiden zu vermeiden. Diese Partie dient als Paradebeispiel dafür, dass viele Spiele einfach über Rennen, Kämpfen und sich Pushen gewonnen werden können, auch wenn spielerisch wenig zusammenläuft und einem die Umsetzung des eigenen Matchplans nur partiell gelingt. Bei einem 2:3-Satzrückstand gelang es der Oberbayerin im sechsten Durchgang, noch einen 1:7- und 8:10-Rückstand zu drehen und sich in den Entscheidungssatz zu retten, in welchem sie sich nach eigener 5:0-Führung innerhalb weniger Spielzüge auf einmal mit 5:8 im Hintertreffen sah, mit etwas Fortune bei 9:10 Ciobanus dritten Matchball abwehrte, um ihren ersten Matchball mit einem Gegentopspin im Umfallen zu verwandeln, der ungefähr so riskant war wie der Siegessprung ihres Bruders auf der Tribüne.

Wie wir nun wissen, hat es für die 29-jährige am Ende zur Bronzemedaille gereicht, die, obwohl Sabine im Halbfinale auch reelle Siegchancen vorzuweisen hatte, sich höchst zufriedenstellend anfühlen muss. Wer sich nach einer derart zähen Schulterverletzung zurückkämpft, Tag ein Tag aus hart trainiert und gefühlt jeden Abend im Kraftraum ist, um auf dem Fahrrad eine Tour-de-France-Etappe zu absolvieren, dem sei eine EM-Medaille von Herzen gegönnt. 

Geglückter Übergang von Schöpp zu Boros

Nicht weniger haben sich Nina Mittelham und Shan Xiaona ihre Medaillen verdient. Letztere war mit ihrer einzigartigen Spielweise, großartigem taktischem Verständnis und jahrelanger Erfahrung auf Topniveau gar ohne Satzverlust ins Viertelfinale eingezogen, in dem es gegen Shao Jieni erstmals brenzlig wurde. In einer hochemotionalen Begegnung behielt die 39-jährige in der tobenden Rudi-Sedlmeyer-Halle einen kühlen Kopf und vollendete ihren Siebensatzerfolg, indem sie ihre elf Jahre jüngere Kontrahentin mit einem cleveren Flip in die tiefe Vorhand ins Abseits stellte. Dass das Halbfinale gegen Nina Mittelham, mit der sie ja bereits in Berlin zusammen in einem Verein gespielt hatte, kein Zuckerschlecken für „Nana“ werden sollte, war ihr wohl schon vorher bewusst. Ähnlich wie bei Han Ying ist sie mit ihrem etwas spezielleren Spielsystem im Duell gegen Mannschaftskolleginnen eher im Nachteil, was Nina besonders durch parallel platzierte Topspins ausnutzte. Allgemein gehört die 25-jährige Willicherin europaweit zu den Spielerinnen mit dem größten Potential. Mit großem Ballgefühl ausgestattet gibt es quasi keinen Schlag, den sie nicht beherrscht, weshalb sie ohne Verletzung auch gegen die spätere Europameisterin Sofia Polcanova die leichte Favoritin gewesen wäre. Die Schulterschmerzen, die sie zur Finalaufgabe zwangen, traten bereits in der Vorschlussrunde an die Oberfläche und konnten trotz professioneller Behandlung nicht entscheidend verringert werden. Trösten wird es Nina nicht, doch bin ich mir sicher, dass sie sich auch die Einzel-EM-Goldmedaille im Laufe ihrer Karriere noch holen wird – und dieser Erfolg wird sich nach diesem unglücklichen Sonntag noch süßer anfühlen. 

So lässt sich resümieren, dass aus deutscher Sicht trotz dreifachem Edelmetall sogar noch mehr drin gewesen wäre. Mit Petrissa Solja hat die Titelverteidigerin gefehlt und die Nummer eins sowie die Nummer zwei der Setzliste mussten verletzt aufgeben. Daran erkennt man, wie viel Klasse in der deutschen Damennationalmannschaft steckt. Auch die Spielerinnen, die noch nicht ganz an den Medaillen schnupperten, haben in den nächsten Jahren die Möglichkeit, sich ins Scheinwerferlicht zu spielen. Der Übergang von Bundestrainerin Jie Schöpp, die mit ihrem Team bei Olympia 2016 Silber nach Deutschland holte, zu Bundestrainerin Tamara Boros darf nach dem Mannschafts-EM-Gold, den Europe-Top16-Siegen von Nina Mittelham und Han Ying sowie drei Einzelmedaillen bei der Heim-EM als sehr geglückt bezeichnet werden. 

Nicht immer spektakulär und trotzdem effektiv

Zum Ende noch ein paar Worte zur neuen Europameisterin: Sofia Polcanova, die Siegerin von München, bestach in der bayerischen Landeshauptstadt vor allem durch ihr sicheres Spielsystem. In den engen Situationen gelang es ihr, das oft so Banale zu beherzigen – den Ball auf den Tisch zu spielen. Besonders im Damentischtennis kommt es auf eine hohe Grundsicherheit und gute Platzierungen an. Die Schlaghärte ist nicht ganz so entscheidend, weshalb Polcanovas beidseitig kontrolliertes Spiel beispielsweise im Vergleich zu Sabine Winters athletischem System nicht immer spektakulär anmutet, aber nicht minder effektiv sein muss. Das Finale, das aufgrund der verletzungsbedingten Aufgabe von Nina bereits nach zwei Sätzen beendet war, hatte sich die gebürtige Moldawierin sicherlich anders vorgestellt, doch ist ihr EM-Titel natürlich verdient. Ich bin gespannt, ob sie diese Leistung wiederholen kann. Denn sicher ist, dass die Boros-Damen 2024 in Innsbruck bei der Vergabe von Gold, Silber und Bronze auch wieder ein gehöriges Wörtchen mitzureden haben. 

(Kilian Ort)

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