Blog

Kilians Blog: Wer soll da noch durchblicken?

Für viele Top-Spieler ist WTT ein Gang ins Ungewisse (©ITTF)

04.01.2021 - Die Änderungen, die der Weltverband mit seiner Tochterfirma „World Table Tennis“ in diesem Jahr in die Tat umsetzen wird, haben schon im Vorfeld für viele Diskussionen gesorgt. Nun meldet sich mit Kilian Ort ein Spieler zu Wort, der die geplanten neuen Turnierformate, die Punktevergabe für die Weltrangliste und das Vorgehen der ITTF aus der Sicht der direkt Betroffenen, der Athleten, für uns in seinem Blog einordnet.

„World Table Tennis is coming 2021”. Dem ein oder anderen aufmerksamen Zuschauer der World-Tour-Events ist dieser Slogan vielleicht schon aufgefallen. Jörgen Persson rief diesbezüglich Basti Steger schon einmal mit einem Augenzwinkern zu: „Was war denn das für eine Sportart, die wir unser ganzes Leben betrieben haben, wenn Tischtennis erst 2021 kommt?“ Zu Beginn habe ich mich auch gefragt, was das soll. Und um ehrlich zu sein, frage ich mich das, nachdem ich mich mit der Materie intensiver auseinandergesetzt habe, zum Großteil immer noch. Für diejenigen, die bisher noch nie etwas von WTT gehört haben, versuche ich dieses Konstrukt nach bestem Wissen kurz vorzustellen: Unser Weltverband, die ITTF, hat WTT (World Table Tennis) als ihre Tochterfirma gegründet, um eine neue Struktur der bisherigen internationalen Turniere einzuführen, für die WTT allein verantwortlich ist. Alle Reformfreunde unter uns, dürfen jetzt jubeln: Es gibt mal wieder etwas Neues! 

Wir spielen Tennis

Das Ziel der neuen Turnierserie ist, Tischtennis auf das nächste Level zu heben. Dafür sollen ein moderner Look der Events sowie neue Kameraperspektiven etabliert werden, die dafür sorgen, dass man unseren Sport so einfängt, wie man ihn noch nie gesehen hat. Darüber hinaus soll es unter anderem separate Frauen-Turniere, eine verbesserte TV-Produktion sowie mehr Inside-Infos über die Topspieler geben. Dadurch sollen vor allem mehr Kinder den Weg an die Tischtennistische finden und insgesamt mehr Menschen unseren Sport konsumieren. 

Was sich für die Spieler ändert? Wir spielen Tennis. Okay, das ist zu viel des Guten, aber wer das Turniersystem der ATP sowie der WTA aus dem Tennis kennt, wird einige signifikante Parallelen erkennen können. Unter anderem soll es bis zu vier „Grand Smashes“ pro Jahr an festen Orten geben, die Weltrangliste wird nun wöchentlich erscheinen und kontinentale Turniere werden stark abgewertet.  

Überraschungen zu Weihnachten

Wie das neue WTT-System und die Punktevergabe aber genau aussehen, versteht aktuell wohl gerade einmal die Hälfte der Spieler, die die ganze Sache hauptsächlich betrifft. Am 23. Dezember – somit nur eine gute Woche vor der erstmaligen Anwendung des neuen Systems – veröffentlichte die ITTF gemeinsam mit WTT das neue Weltranglistenkonzept. In Spielerkreisen hat man bereits im Vorfeld von der ein oder anderen Neuerung gehört, doch dass das Ranking nicht mehr im Monatsrhythmus, sondern jeden Dienstag neu erscheinen wird, hat sicherlich nicht nur mich überrascht. Für die Athleten bedeutet dies unter anderem, Kontakt zu den eigenen Ausrüstern aufzunehmen, um die Verträge, die häufig auch mit der Weltranglistenposition verknüpft sind, zu adaptieren. Deutlich präsenter war dagegen die Idee der bereits angesprochenen Grand Smashes. Auf ihrer Homepage wirbt WTT damit, dass dies Turniere sind, die jeder Spieler gewinnen und jede Stadt ausrichten möchte – sogar der Vergleich zu Wimbledon fällt. Dass sich das dritte Tennis-Grand-Slam des Jahres zum Mekka seiner Sportart entwickelt hat, liegt wohl zum Großteil daran, dass es 1877 das erste Mal ausgetragen wurde und folglich auf eine unglaublich lange Historie zurückblicken kann. 

Wenn ich überlege, ob es ein Turnier mit einer annähernd vergleichbaren Geschichte bei uns gibt, ist der einzige Wettbewerb, der mir dabei in den Sinn kommt, die Einzel-Weltmeisterschaft. Steve Dainton, CEO der ITTF und Director von WTT, spielte zumindest mit dem Gedanken, genau dieses Event, das für Tischtennisspieler neben Olympia das Highlight des Terminkalenders darstellt, abzuschaffen. Als er für seine Idee weltweit heftig Gegenwind bekam, wurde seine Überlegung aber schnell verworfen. Nicht nur vom DTTB wird der Mann, der nun wie erwähnt in Doppelfunktion für ITTF und WTT tätig ist, zunehmend kritischer betrachtet. In einem Brief an die anderen Mitgliedsverbände wollte der DTTB im November auf eine kommende Machtübernahme seitens der WTT-Funktionäre und eine befürchtete Irrelevanz der nationalen Verbände aufmerksam machen. Dabei stach mir besonders ins Auge, dass die Vertragslaufzeit zwischen ITTF und WTT direkt 15 Jahre beträgt. Über die getroffenen Entscheidungen der WTT wurden die nationalen Verbände, die nun mal unseren Weltverband ausmachen, nicht transparent informiert. Zudem wurde kritisiert, dass die Grand Smashes mehr Weltranglistenpunkte bringen sollen als Olympische Spiele und Weltmeisterschaften, die für DTTB und Co. aus finanzieller Sicht eine elementare Bedeutung haben. Zumindest den letzten Punkt hat WTT korrigiert, indem sich darauf geeinigt wurde, dass es ab 2021 für den Olympiasieg, für den WM-Sieg und für einen Grand-Smash-Sieg die gleiche Weltranglistenpunktzahl geben wird. Auf die genaue Verteilung der Punkte – was bekomme ich für ein Halbfinale bei der WM oder für einen Viertelfinaleinzug bei einem Contender-Event (ehemals Challenge) – warten wir zum Jahreswechsel immer noch, obwohl es für den 29.12. versprochen wurde. Lasst uns doch am besten erst die Turniere spielen und dann könnt ihr die Punkte vergeben…

Startplatz für den Sohn vom Scheich

Neben den Grand Smashes sollen jährlich acht WTT Champions-Wettbewerbe (vier Frauen-, vier Männerturniere) stattfinden, an denen exklusiv die 30 höchstnotierten Spieler der Weltrangliste (plus eine Wild Card, plus eine WTT-Nominierung) teilnehmen dürfen. Eine Qualifikation, wie sie bisher bei allen Events von WM über Platinum-Events hin zu den Challenger-Turnieren stattgefunden hat, ist nicht vorgesehen. Nach meinem aktuellen Kenntnisstand steht hinter der Qualifikation bei den Grand Smashes auch noch ein dickes Fragezeichen. Wenn die absolute Crème de la Crème aber aufgrund ihrer Setzung die Weltranglistenpunkte quasi auf dem Silbertablett präsentiert bekommt, stellt sich mir schon die Frage, wie diese Spieler – solange sie gesund bleiben und einfach nur an den Turnieren teilnehmen – ihr hohes Standing überhaupt verlieren können und demnach im Umkehrschluss, wie die Athleten dahinter zu ihnen aufschließen können. Zudem gibt es, wie bereits erwähnt, für den Ausrichter und die WTT die Möglichkeit, Wild Cards sowie WTT-Nominierungen zu verteilen. Bei den Grand Smashes beispielsweise sind dies zusammengenommen sechs Plätze. Da die ITTF und auch WTT darauf bedacht sind, unseren Sport noch globaler zu machen und immer mehr Märkte zu erschließen, muss man kein Prophet sein, um zu verstehen, dass diese Entscheidungen dementsprechend getroffen werden – der Sohn vom Scheich darf vielleicht auch mal mitspielen. 

Wie sich das auf die jungen deutschen Spieler auswirken wird, lässt sich sicherlich nicht genau vorhersagen, doch stelle ich schon eine leichte Resignation gegenüber dieser Reform unter unseren nachkommenden Athleten fest. Man hat das Gefühl, dass es extrem schwer wird, sich im Ranking nach oben zu arbeiten, sofern man dort noch nicht angekommen ist. Denn obwohl die WTT damit geworben hat, das Preisgeld auf der Tour mehr als zu verdoppeln, würde es aus rein finanzieller Sicht für die Youngsters sowieso mehr Sinn machen, sich auf die Liga zu konzentrieren. Gerüchten zufolge wurden die angepriesenen Summen allerdings schon wieder um 66% reduziert. Mir persönlich, als ein Sportler, der vom DTTB und BTTV gefördert wurde, aber besonders von einem tollen Verein profitiert hat, tut es ebenso weh zu sehen, dass die WTT versucht, die Top-Athleten ausschließlich auf der WTT-Tour zu halten, weshalb die TTBL möglicherweise an Aushängeschildern verlieren wird oder diese Weltklassespieler zumindest seltener für ihre Klubs aufschlagen werden. Die Vereine sollen demnach die Stars von morgen mithilfe der regionalen sowie nationalen Verbände ausbilden und umso besser sie dies tun, desto irrelevanter werden sie für die Spieler. Wie Vereine und Verbände auf diese Weise noch in ausreichendem Maße Sponsoren akquirieren sollen, weiß ich nicht. Ich denke aber, dass dieses Thema für die WTT-Funktionäre bei ihrer Reform maximal sekundär war, weil es einen Ligabetrieb, wie wir ihn kennen, nur in Europa und mit Abstrichen in Asien gibt. 

Wer soll da noch durchblicken?

Wer zwischen den ITTF-Finals und den Champions- League-Turnieren die Tischtennisszene aufmerksam verfolgt hat, wird mitbekommen haben, dass es Ende November bereits ein WTT- Auftaktevent in Macau gab, zu dem einige Weltklasseathleten mit üppigen Antrittsgeldern gelockt wurden. Dort wollte die neu gegründete Tochter der ITTF erstmals mit neuem Design und verbesserter Präsentation aufschlagen. Ich muss WTT attestieren, dass sie diese Vorhaben meiner Meinung nach großartig in die Tat umgesetzt haben. Die orange-schwarze Farbkombination machte einiges her und auch die geänderten Kameraperspektiven wirkten auf mich erfrischend. Dass ich das Event trotzdem nicht bis zum Ende verfolgte, lag daran, dass ständig die Regeln geändert wurden. Für die Gesetzten ging’s bis 5, für die Ungesetzten bis 11, bei 10:10 gab’s einen Entscheidungspunkt und irgendwann durften sich die gesetzten Spieler ihre Gegner aussuchen. Was danach kam, weiß ich nicht, weil ich das Turnier nicht mehr ernst genommen habe. Es hat nur noch gefehlt, dass eine Art „power ball“ eingeführt wird, für den es anstatt eines einfachen, einen doppelten Punktgewinn gibt. Nicht falsch verstehen: Ich stehe Veränderung offen gegenüber, nur bin ich der Meinung, dass man innerhalb eines Events nicht ständig die Regeln ändern sollte. Wer soll denn da noch durchblicken?

Zum Schluss ist noch positiv anzumerken, dass sich WTT für interessante Austragungsorte öffnen möchte. Auf ihrer Homepage träumt WTT dabei von WTT Champions-Events an besonderen Orten wie der Grand-Central-Station von New York, den Pyramiden von Gizeh oder auch von Theatern. Inwieweit sich diese Vorhaben realisieren lassen, wird die Zukunft zeigen. Gegen kreative Ideen und eine Erfrischung unserer Sportart haben sicherlich die wenigsten Spieler und Zuschauer etwas einzuwenden. Wenn der Fan den Menschen hinter dem Athleten besser kennenlernt, wird er sich mehr mit ihm/ihr identifizieren können, weshalb das Bestreben, mehr Hintergrundinfos zu liefern, richtig ist - Adam Bobrow hat es mit „ask a pro anything“ vorgemacht. Andere Kamerapositionen und eine allgemein verbesserte Qualität der Aufnahmen stehen zudem auch schon seit Jahren auf dem Wunschzettel der Anhänger unserer Sportart. Gut, dass WTT diese Dinge angehen will. Nichtdestotrotz wird so mancher gemerkt haben, dass ich dieser Reform aus den oben angeführten Punkten skeptisch entgegenblicke. Ich hoffe, dass mich WTT Lügen strafen und unseren Sport tatsächlich in neue Sphären führen wird. 

Das Thema ist sehr komplex und wie ich schon geschrieben habe, muss ich gestehen, dass ich selbst noch nicht alles durchblicke. Wenn ihr mehr über WTT erfahren wollt, bleibt myTischtennis.de treu, damit ihr stets up to date seid.

Allen Lesern wünsche ich fürs neue Jahr vor allem Gesundheit, die Rückkehr an die Tische und einen verdienten Kantenball, wenn’s wichtig wird.

Euer Kilian 

(Kilian Ort)

Übrigens: In der Januar-Ausgabe des Magazins tischtennis, die am 7. Januar erscheint, wird es auch einen ausführlichen Artikel über die Pläne der ITTF bzw. WTT sowie die Hintergründe zum DTTB-Brief geben. Mehr Infos zur Magazinbestellung finden Sie hier!

Kommentar schreiben

Um weiterhin qualitativ hochwertige Diskussionen unter unseren Artikeln zu gewährleisten, haben wir uns dazu entschlossen, die Kommentarfunktion mit dem myTischtennis.de-Login zu verknüpfen. Wenn Sie etwas kommentieren möchten, loggen Sie sich einfach in Ihren Account ein. Die Verwendung eines Pseudonyms ist weiterhin möglich, der Account muss jedoch einer realen Person zugeordnet sein.

* Pflichtfeld

Copyright © 2024 myTischtennis GmbH. Alle Rechte vorbehalten.