Boll und Ovtcharov gewannen Gold und Silber im Herren-Einzel (©ETTU)
28.06.2021 - Sechs Tage Individual-EM in Warschau liegen hinter uns. Es war die erste EM unter Corona-Bedingungen und sicher nicht die letzte, denn schon in drei Monaten steht im rumänischen Cluj die Mannschafts-EM an. Mit vier von fünf möglichen Titelgewinnen und drei Silbermedaillen war es die erfolgreichste EM für Deutschland aller Zeiten. Nach dem Ende des Turniers zieht Redakteur Daniel Koch in seinem Blog in mehrerlei Hinsicht Bilanz.
Nun liegt sie also hinter uns, die Individual-EM in Warschau, die natürlich anders alle Europameisterschaften davor war. Die Spieler und der Trainer- und Betreuerstab hielten sich im Rahmen des Turniers in einer ‚Bubble‘ auf. In der Halle selbst war der Kontakt zu den Spielern deshalb auf ein Minimum reduziert und fand, wenn überhaupt, nur in der Mixed-Zone statt. In Nicht-Corona-Zeiten hält man es in dieser Hinsicht bei Europameisterschaften recht locker, die Wege von Spielern und Journalisten kreuzen sich auf den Gängen und man kann sich auch schon einmal für ein Interview zu den EM-Teilnehmern auf die Tribüne setzen. Das war hier, wie erwartet, natürlich nicht der Fall und Zugang zum Innenraum überhaupt nicht denkbar.
Feuchte Tische, auf der Pressetribüne teils eisige Temperaturen
Auch sonst waren die Corona-Maßnahmen durchaus streng. Bevor man überhaupt Zugang zur Pressetribüne erhielt, musste man sich morgens einem Antigen-Test unterziehen – an jedem einzelnen Tag. Mit der Maskenpflicht nahmen es einige dann aber nicht so genau hier, vor allem die einheimischen Kollegen und Volunteers – allerdings eben auch vor dem Hintergrund, dass alle hier Anwesenden täglich getestet wurden und zum Teil auch schon vollständig geimpft waren (ich leider noch gar nicht – dennoch war ich froh, die ohnehin schon schlauchenden, meist 12- bis 13-stündigen Schichten mit wenig Tageslicht nicht komplett mit FFP2-Maske verbringen zu müssen. Anders sah das natürlich bei Gesprächen mit Spielern aus, da erklärt es sich von selbst, dass man auf FFP2-Maske und ausreichend Abstand achtete…).
Sehr genau genommen wurde von den Organisatoren dagegen, für ordentlich Luftverwirbelung in der Halle zu sorgen. So klagte beispielsweise Timo Boll an einem Wettkampftag über Rückenwind, weil das 'Gebläse' hinter ihm so stark war. Auf der Pressetribüne selbst machten sich die Bemühungen, für möglichst viel Belüftung zu sorgen, auch bemerkbar. Waren die Temperaturen an den ersten Tagen noch angenehm dort oben, wünschte ich mir zwischendrin, eine Winterjacke eingepackt zu haben. Zuletzt hatte ich solche Temperaturen auf der Pressetribüne bei der EM 2015 in Jekaterinburg erlebt, aber da auch bei knapp über 0 Grad Außentemperatur, während es hier in Warschau fast die ganze Woche annähernd 30 Grad warm war. Zufrieden mit den Bedingungen in der Halle schien übrigens kein einziger Spieler zu sein, zumindest aus dem DTTB-Lager. Fast jeder deutsche Spieler erwähnte in Interviews nach Partien, dass die Halle bzw. die Tische sehr feucht gewesen seien.
Der ewige Boll – Solja zeigt Nervenstärke
Soviel zu den äußeren Umständen, nun aber zum Sportlichen: Als sich Timo Boll vor drei Jahren den EM-Titel in Alicante holte, freute ich mich über den Erfolg und darüber, bei diesem historischen Moment dabei zu sein, weil es wohl sein letzter EM-Sieg im Einzel sein würde – dachte ich damals und dachte vielleicht auch er selbst. Am Sonntag nun belehrte er mich, sich selbst und alle anderen eines Besseren. Mit seinen inzwischen 40 Jahren kürte er sich zum achten Mal in seiner Karriere zum Einzel-Europameister. Vor allem ab dem knappen Spiel gegen Benedikt Duda im Achtelfinale zeigte Boll sehr starke Leistungen, schlug im Anschluss mit Anton Källberg nicht nur den besten Bundesligaspieler der abgelaufenen Saison, sondern im Halbfinale auch Vize-Weltmeister Mattias Falck und im Finale Dimitrij Ovtcharov, gegen den er sich vor dem Spiel in der Außenseiterrolle sah. Vor einem Jahr noch hatte Boll verletzungsbedingt vier Monate aussetzen müssen, seine Karriere stand nach eigener Aussage auf der Kippe – und dann so ein Comeback!
Doch nicht nur Bolls Auftritt in Warschau machte Lust auf die in wenigen Wochen stattfindenden Olympischen Spiele in Tokio. Mit vier Gold- und drei Silbermedaillen war es die erfolgreichste EM für den DTTB in der 63-jährigen Geschichte des Turniers. Dreimal (Herren- und Damen-Einzel, Damen-Doppel) wurden die Titel in rein deutschen Finals ausgespielt. Und so wusste nicht nur Boll in Warschau zu überzeugen: Petrissa Solja holte sich zum ersten Mal den Titel, nachdem sie am Samstag noch im Achtel- und Viertelfinale zwei 4:3-Krimis zu überstehen hatte (zwei Matchbälle im Achtelfinale gegen sich) und danach erstmal in (Freuden-)Tränen ausbrach.
Nicht überbewerten, aber Selbstvertrauen mitnehmen
Kaum jemand hatte das deutsche Mixed-Duo Nina Mittelham/Dang Qiu auf dem Schirm, das als 'zweites' Doppel neben dem etablierten Duo Solja/Franziska im Turnier die Chance bekam – und diese besser nutzte, als viele es erwartet hatten. Auch besser, als sie selbst. Neben den Erfolgen von Shan und Ovtcharov (Finaleinzug im Einzel), dem Triumph von Shan und Solja im Doppel sowieso dem Finaleinzug von Mittelham und Sabine Winter darf als positive Überraschung sicherlich auch Winters Viertelfinaleinzug im Einzel genannt werden. Sie war immerhin diesmal nur als Qualifikantin ins Turnier gestartet. Licht und Schatten dagegen gab es bei Patrick Franziska (Achtelfinal-Aus im Einzel, Erstrunden-Aus im Herren-Doppel, Viertelfinal-Aus im Mixed-Doppel). Seine Leistung darf in Tokio gerne konstanter sein, das wird er wahrscheinlich auch selbst so sehen.
Unter dem Strich macht die Leistung der Deutschen bei der EM und ihre Medaillenausbeute Lust auf die Olympischen Spiele. Überbewertet werden dürfen die Auftritte in Warschau natürlich nicht und so sprach auch Sportdirektor Richard Prause im Bilanzgespräch davon, dass man bei der EM wichtige Rückmeldungen bekommen habe, "welche Hausaufgaben noch zu erledigen sind in den nächsten Wochen. Beispielsweise im Doppel, aber auch bei der Steuerung des individuellen Feinschliffs aller Spielerinnen und Spieler". Eine Portion Selbstvertrauen und Rückenwind – diesmal im metaphorischen Sinne – dürfte die EM den deutschen Spielern mit Blick auf Tokio in jedem Fall aber beschert haben...
(DK)
Um weiterhin qualitativ hochwertige Diskussionen unter unseren Artikeln zu gewährleisten, haben wir uns dazu entschlossen, die Kommentarfunktion mit dem myTischtennis.de-Login zu verknüpfen. Wenn Sie etwas kommentieren möchten, loggen Sie sich einfach in Ihren Account ein. Die Verwendung eines Pseudonyms ist weiterhin möglich, der Account muss jedoch einer realen Person zugeordnet sein.
Copyright © 2025 myTischtennis GmbH. Alle Rechte vorbehalten.