In Düsseldorf waren Fan Zhendong, Ma Long und Xu Xin (hier mit Lee Sangsu) die gefeierten Helden, in Chengdu verzichteten sie freiwillig auf den möglichen Titel (©Fabig)
27.06.2017 - Ma Longs, Xu Xins und Fan Zhendongs Boykott des Achtelfinals der China Open haben für viel Aufruhr in der Szene und in ihrem Heimatland gesorgt. Noch gibt es vor allem über die genauen Hintergründe kaum gesicherte Fakten. myTischtennis.de-Redakteurin Janina Schäbitz beschränkt sich daher in ihrem Blog auf die Protestaktion in der Halle und überlegt, ob diese eine Heldentat oder einfach respektlos war.
Haben Sie den Film „Der Club der toten Dichter“ aus dem Jahr 1989 gesehen? An die letzte, berühmt gewordene Szene fühlte ich mich am Freitag erinnert. Robin Williams alias Lehrer John Keating wird zu Unrecht der Schule verwiesen - und seine Schüler zeigen sich mit ihm trotz der drohenden Konsequenzen solidarisch, indem sie vor den Augen des keifenden Schulleiters einer nach dem anderen auf die Tische klettern und ihm Walt Whitmans Zitat „Oh Captain, mein Captain“ zurufen. Diese rührende Szene ist in die Filmgeschichte eingegangen - so wie die Ereignisse bei den China Open am Freitag in die Tischtennisgeschichte eingehen werden, ganz egal, was am Ende daraus wird. Denn wie man den Boykott auch bewerten mag - ob als heldenhafte Ehrerbietung vor ‚Captain‘ Liu Guoliang oder als Respektlosigkeit vor Publikum, Gegnern und Organisatoren: So etwas hat es im Tischtennissport - wenn überhaupt - noch nicht oft gegeben.
Was ist da passiert?
Über die Hintergründe der Protestaktion wird noch immer viel gemutmaßt. Geht es nur um die vordergründig zum Ausdruck gebrachte Sehnsucht nach dem - zumindest für die Öffentlichkeit überraschend - versetzten Liu Guoliang? Wollte man gegen politische Machtspielchen protestieren, die womöglich im Hintergrund laufen? Oder liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen? Es ist sehr schwierig, von hier aus gesicherte Aussagen zu treffen. Dennoch möchte ich versuchen, die Aktion vom Freitag einmal möglichst objektiv zu betrachten und für mich eine Antwort auf die Frage zu finden, ob der Boykott eher eine Heldentat oder eine Unverschämtheit war.
Was ist also passiert? Die drei besten Spieler der Welt, Ma Long, Fan Zhendong und Xu Xin, erscheinen nicht zu ihren Achtelfinalpartien bei den China Open und begründen ihren Boykott auf Weibo mit dem Satz „Im Moment haben wir keine Lust zu kämpfen, weil wir dich vermissen, Liu Guoliang“. Diese Erklärung posten nicht nur die drei Topspieler, sondern auch andere Trainer und Athleten aus dem Reich der Mitte. Wenige Stunden später sind diese Beiträge aus Weibo entfernt und das chinesische Sportministerium veröffentlicht eine erste Reaktion, in der es den Protest verurteilt und eine intensive Untersuchung durch den Verband fordert. Es kritisiert den Boykott als Respektlosigkeit gegenüber den Zuschauern, den Gegnern und den Interessen des Landes.
Wer sind die Leidtragenden?
Gehen wir diese potenziellen Leidtragenden einmal durch. Die Zuschauer haben guten Grund, sauer auf die Sportler zu sein. Es ist sehr ärgerlich, wenn man sich ein Ticket für eine Sportveranstaltung leistet, aber die Spieler, die man eigentlich anfeuern und in Aktion sehen wollte, aus einem selbst gewählten Grund nicht antreten. Die Zuschauer in Chengdu reagierten anders. Schon nach dem ersten verpassten Achtelfinale von Ma Long erwiesen auch sie Liu Guoliang die Ehre und skandierten seinen Namen, was man als Unterstützung für die Aktion der Sportler werten kann. Dennoch sah man in den folgenden Turniertagen einige leere Sitze auf den Tribünen. Wäre das auch der Fall gewesen, wenn Ma Long und Fan Zhendong - und nicht Timo Boll und Dimitrij Ovtcharov - im Finale gestanden hätten? Schwer zu sagen, aber eher unwahrscheinlich, wenn die geliebten Topstars schon mal vor der Haustür spielen. Man kann jedenfalls sicher sein, dass viele Fans durchaus enttäuscht waren, ihre Stars nicht zu sehen. Die Chöre in der Halle drückten hingegen trotzdem vor allem Verständnis aus.
Wie sieht es mit den Gegnern aus? Wie haben sie sich wohl gefühlt, als Ma Long und Co. freiwillig verzichteten? Timo Boll räumte ein, dass es ein komisches Gefühl sei, dass die drei Besten plötzlich fehlen, aber dass sie sicher ihre Gründe dafür hatten und die Entscheidung bestimmt nicht leichtfertig gefällt hätten. Natürlich ist es komisch, in die entscheidende Phase der China Open zu gehen und keinen Chinesen mehr im Rennen zu wissen. Da dieses Fehlen auch noch aus freien Stücken passierte, wird jeder Erfolg, der danach erzielt wird, stets die Fußnote tragen: "Die drei besten Spieler haben das Turnier vorher freiwillig beendet." Und dennoch ist der Einzug ins Finale der beiden Deutschen und Ovtcharovs Titelgewinn de facto nicht weniger wert: Es gibt wichtige Weltranglistenpunkte, ein saftiges Preisgeld und einen weiteren Haken, den man auf der eigenen To Do-Liste machen kann. Denn seien wir mal ehrlich: Die Chance auf ein rein deutsches Finale - oder auch nur auf einen deutschen Finalisten - standen vor der Aktion sehr schlecht, zumal beide wahrscheinlich schon im Viertelfinale auf die beiden Topfavoriten gestoßen wären.
Heldentat oder Respektlosigkeit?
Wer sind nun also die Leidtragenden dieser ganzen Aktion? Die ITTF und die Organisatoren, die natürlich einen Wettbewerb mit dem bestmöglichen Aufgebot veranstalten wollen und nicht drei kampflose Aufgaben im Achtelfinale überbrücken möchten, von denen sie offenbar komplett überrascht wurden. Die TV-Sender, die nicht damit gerechnet haben, ab dem Achtelfinale keine chinesischen Herren mehr begleiten zu können. Damit zusammenhängend die Sponsoren, die sich während der Auftritte der Topstars sicher die besten Chancen ausrechnen, ihr Label in Szene zu setzen. Der chinesische Verband, der zum ersten Mal seit 2006 nicht den China Open-Sieger stellt und gegenüber den höheren Instanzen in Erklärungsnot gerät, warum er seine Spieler nicht im Griff hat. Und kurioserweise die Sportler selbst, die nun mit Konsequenzen zu rechnen haben. Die ITTF hat bereits gesagt, dass alle Optionen als mögliche Sanktionen auf dem Tisch liegen. Klar, man kann sich als Weltverband nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Die Spieler können nicht einfach spielen oder nicht spielen, wie sie gerade lustig sind. Zudem werden die Spieler aber auch mit internen Sanktionen zu rechnen haben, was die offizielle 'Entschuldigung' ja schon vermuten lässt. Worin die bestehen? Gute Frage, dafür müsste man sich ein bisschen besser mit dem Strafenkatalog im chinesischen Team auskennen. Sicher ist, dass die Spieler und Trainer etwas getan haben, was in China - sagen wir mal - nicht gerne gesehen wird. Sie haben eine politische Entscheidung öffentlich in Frage gestellt. Und dafür haben sie sich eine Plattform ausgesucht, auf der sie sich sehr großer Aufmerksamkeit gewiss sein konnten. Das wird sicher nicht ohne Folgen bleiben.
Also wie beantworte ich die Frage nun? War die Aktion eine Heldentat oder ein Akt der Respektlosigkeit? Um das abschließend beantworten zu können, muss erst mal Gewissheit über die genauen Hintergründe herrschen, was jetzt noch nicht der Fall ist und über die ich nicht spekulieren möchte. Betrachtet man die Tat einmal für sich, haben die drei Spieler der Veranstaltung auf mehreren Ebenen geschadet. Vor dem Hintergrund, dass sie das getan haben, um ihren Coach zu unterstützen, dem offenbar eine Ungerechtigkeit widerfahren ist, muss ich ihnen jedoch dafür Respekt zollen. Auch wenn es schwer ist, die Verhältnisse in China genau einzuschätzen, ist sicher, dass sie persönlich viel riskiert haben, während der Protest für die Zuschauer und Gegner sicherlich verkraftbar war und die ITTF, Sponsoren und TV-Sender trotz der negativen Konsequenzen auch eine Menge öffentlicher Aufmerksamkeit erhielten. Es lässt sich darüber streiten, ob dies die richtige Art und Bühne für diesen Protest war, aber ich finde es gut, mutig und heldenhaft, sich gegen Dinge zu stellen, die man als ungerecht empfindet, und die drohende Strafe dafür in Kauf zu nehmen. Ganz im Sinne: „Oh Captain, mein Captain.“
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(JS)
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