Tomokazu Harimoto übertreibt es nach dem Geschmack von Jan Lüke mit seinen Jubelschreien (©ITTF)
21.12.2015 - Wie viel Emotion darf im Tischtennis sein, wie viel sollte sein? Bereits vor zwei Jahren diskutierte unser Blogger Jan Lüke in unserer Pro vs. Contra-Reihe mit Lennart Wehking über den Sinn und Unsinn von Anfeuerungsrufen wie 'Tschoh'. Im aktuellen Blog greift der Regionalligaspieler das Thema noch einmal auf und hinterfragt, ob ab einem bestimmten Pegel bei Jubelschreien nicht sogar der Schiedsrichter einschreiten sollte.
Das klang wahrlich vielversprechend. Tomokazu Harimoto, das japanische Tischtennis-Wunderkind, hatte wieder zugeschlagen. Diesmal bei den Polish Open. Mit einem Sieg über den ehemaligen EM-Finalisten Tan Ruiwu aus Kroatien. Eine echte Hausnummer im internationalen Tischtennis-Zirkus besiegt von einem zwölfjährigen Kind. Denn nichts anderes ist der Japaner. Das wollte, ja, das musste ich mir doch mal ansehen! Je länger ich allerdings vor dem Zusammenschnitt dieser Partie mit recht ungewöhnlichem Ausgang saß und je spannender es in diesem Sieben-Satz-Spiel zuging, desto genervter wurde ich. Erst habe ich die Lautstärke nur leiser gestellt. Dann habe ich den Ton ganz ausgestellt. Und schlussendlich habe ich mir das Spiel nicht mal mehr zu Ende angeschaut. Ich war bedient.
Warum? Das ist in meinen Augen, oder besser gesagt: in meinen Ohren unschwer zu überhören. Der hoch veranlagte Dreikäsehoch schrie sich nach jedem Punktgewinn derart lautstark und penetrant die Seele aus dem Leib, dass nicht nur Tan Ruiwu genervt die Segel streichen musste. Auch manch ein Zuschauer auf der Tribüne oder vor den Bildschirmen wird wohl nur noch mit den Augen gerollt haben. Ich zumindest ganz vorneweg. Harimotos Habitus war für mich nichts anderes als grob nervtötend.
Nun ist das mit dem Jubeln beim Tischtennis generell – denn natürlich soll es hier nicht einzig um Harimoto gehen – so eine Sache. Dass man sich darüber streiten kann und vielleicht sogar sollte, wie wichtig und richtig die Selbstanfeuerungen von Spielern und für Spieler sind, weiß ich sehr gut. Ich habe es ja selbst schon versucht im Pro vs. Contra. Und damit das nicht falsch ankommt: Auch ich möchte keine emotionslosen Tischtennis-Roboter erleben, weder als Gegner noch als Zuschauer. Auch ich möchte vieles von dem, was gerne unter der doch meist hohlen Phrase ‚Emotionen zeigen‘ zusammengefasst wird. Auch ich möchte Spieler, die ihren Wettkampf intensiv leben. Die einen still und konzentriert, die anderen gerne aufbrausend und lebhaft. All das macht Sport auch für mich aus. Siegerfäuste und Jubelposen inklusive. Ich persönlich verstehe den Sinn von zu viel „Tschoh“, „Hussa“ & Co. nicht, aber das ist und bleibt Geschmackssache. Das muss und darf ja jeder für sich selbst entscheiden.
Grenze notwendig
Zumindest, und genau da sind wir beim Thema, bis zu einem gewissen Punkt. Denn irgendwo sollte eine Grenze gezogen werden. Und das, was da etwa das hoch veranlagte Talent Harimoto, der zwar Extrem-, nicht aber Einzelfall ist, abgeliefert hat, war nicht mehr diesseits, sondern weit jenseits dieser Grenze. Und damit meiner Meinung nach: ein Fall für den Schiedsrichter und dessen Auslegung von Ziffer 5.2 des Regelwerks. Die führt einen der schwammigsten Punkte in einem an schwammigen Punkten nicht gerade dünn besiedelten Tischtennis-Regelwerk auf. Der da lautet: „Spieler und Betreuer oder andere Berater sollen alle Unsitten und Verhaltensformen unterlassen, die den Gegner in unfairer Weise beeinflussen, die Zuschauer beleidigen oder den Tischtennissport in Misskredit bringen könnten.“ Es folgt eine Auflistung von Handlungen, bei denen man sich besser nicht erwischen lassen sollte, wenn man mit dieser Regel nicht brechen möchte: Ball absichtlich zerbrechen, Ball wegschlagen, gegen Tisch oder Umrandung treten, ausfallende Ausdrucksweise und grob unhöfliches Verhalten gegenüber Schiedsrichtern oder Schiedsrichter-Assistenten. Wichtiger Hinweis: Die Liste erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Damit lässt das Regelwerk, wie so oft, einen Ermessensspielraum für diejenigen, die befugt sind, ihn auszulegen. Eine seiner bekanntesten Stunden erlebte der besagte Passus, als er Nicole Struse 2006 bei der Mannschafts-WM 2006 in Bremen eine Gelb-Rote Karte bescherte (ab Minute 2:48). Die deutsche Nationalspielerin hatte – zumindest nach Bewertung des Unparteiischen – ihre Faust und ihre Blicke zu direkt in Richtung ihrer österreichischen Gegnerin Li Qiangbing gerichtet. Der Schiedsrichter wertete das als Drohgebärde. Und schritt prompt zur Tat. Es war der Anfang vom Ende der deutschen Medaillenhoffnungen.
'Doppelter Tatbestand' bei unverhältnismäßigen Schreiattacken
Der Fall – ganz gleich, ob in diesem Beispiel berechtigt oder unberechtigt – zeigt, dass an dieser Stelle das Regelwerk Spielraum zur Auslegung bietet, wenn entweder der Gegner in unfairer Weise beeinflusst oder der Sport in Misskredit gebracht wird. Unverhältnismäßige Schreiattacken, wie sie etwa auch im Finale der Jugend-WM vom neuen Weltmeister Liu Dingshuo in kuriosester Weise zu beobachten waren, aber auch sonst in der Weltspitze nicht selten vorkommen, erfüllen da für mich gleich einen doppelten Tatbestand. Auch ich bin mir der Drucksituation bewusst, in der sich gerade Profi-Spieler befinden. Auch ich bin mir der Bedeutung bewusst, die ein optimaler Fokus im Wettkampf einnimmt, bei dem eine notwendige Anspannung und Aggressivität nicht fehlen dürfen. Das alles sollte allerdings nicht dazu führen, dass ein tischtennisferner Zuschauer die Sporthalle betritt – und sich erst einmal fragen muss, ob es nicht vielleicht pathologische Gründe hat, dass die Aktiven brüllen oder schreien, was ihre Lungen hergeben.
Immerhin: Nur eine Runde nach dem lautstarken Sieg über Tan Ruiwu wurde es – im wahrsten Sinne des Wortes – leiser um Tomokazu Harimoto. Gegen Weltmeister Ma Long gingen ihm die Jubelgründe schnell aus. Da konnte auch ich in aller Ruhe beobachten, was für ein begnadeter Bursche der Heißsporn doch ist. Tomokazu wird ein noch besserer Spieler werden, als er gerade schon ist. Und hoffentlich auch noch ein etwas leiserer. Notfalls mit der einen oder anderen Verwarnung als Erziehungsmaßnahme. Die wären aus meiner Sicht angebracht.
(Jan Lüke)
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