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Jans Blog: Die deutschen WM-Männer in der Einzelanalyse

Seit seinem Titelgewinn bei den Deutschen Meisterschaften geht es für Timo Boll kontinuierlich nach oben (©Fabig)

08.05.2017 - Was können Dimitrij Ovtcharov, Timo Boll, Bastian Steger, Patrick Franziska, Ruwen Filus und der - bislang noch unbekannte - sechste deutsche Starter bei der Heim-WM in drei Wochen ausrichten? Mit dieser Frage hat sich unser freier Redakteur Jan Lüke diesmal in seinem Blog beschäftigt und nimmt jeden einzelnen Spieler ausführlich unter die Lupe. Was ist Ihre Meinung? Mit welchen Chancen gehen die deutschen WM-Männer in Düsseldorf an den Start?

Heute in drei Wochen fällt in den Düsseldorfer Messehallen der Startschuss für einen der Höhepunkte in der deutschen Tischtennisgeschichte: die Weltmeisterschaften 2017 in Düsseldorf. Die Erwartungen des DTTB an die Veranstaltung sind hoch – nicht zuletzt auch die sportlichen. Der Verband möchte sich in Düsseldorf als vorzeigbarer Gastgeber präsentieren, aber eben auch: als eine der besten Tischtennisnationen der Welt. Besonderes Augenmerk wird in Düsseldorf den deutschen Herren zuteil werden – und gerade die haben sich im Anflug auf Düsseldorf zuletzt in prächtiger Verfassung gezeigt. Bundestrainer Jörg Roßkopf jedenfalls scheint nicht die Sorge zu plagen, wie er seine Spieler zum WM-Start in Form bekommt – sondern eher die, wie er sie bis dahin in Form hält. Wie ist es bestellt um die deutschen WM-Männer?

Dimitrij Ovtcharov: Deutschlands Bester ging vor der WM in die Offensive – allerdings mit Kritik am eigenen Verband, nicht mit konkreten sportlichen Zielen für Düsseldorf. Mit Letzteren hielt sich der ansonsten forsche Ovtcharov zurück. Wohl eine bewusste Entscheidung. Ovtcharov, seit Jahren mit dem Japaner Jun Mizutani der erfolgreichste Nicht-Chinese auf der Tour, möchte sich den Druck nehmen, der ihn bei Großveranstaltungen zuletzt offensichtlich hemmte. Ausgerechnet bei seinen persönlichen Jahreshöhepunkten 2015 (WM in Suzhou) und 2016 (Einzel-Wettbewerb der Olympischen Spiele) blieb Ovtcharov hinter den Erwartungen zurück. Vor allem hinter den eigenen. Er wirkte nicht formschwach – aber verkrampft. Der Weltranglistenfünfte ist es gewohnt, seine Grenzen mit Ehrgeiz und Akribie nach oben zu verschieben. Nun möchte er seinen Auftritten bei den Großereignissen eine neue Note hinzufügen: Gelassenheit. Auch die aber wird nichts daran ändern, dass weit oben auf seiner Karriere-Wunschliste die noch fehlende WM-Einzelmedaille rangiert. Ein logisches Anspruchsdenken. Findet Ovtcharov im Wettkampf seinen Fokus, ist sein Niveau enorm und gar hoch genug, um die Chinesen zu fordern. Über einen punktgenauen Formaufbau muss man sich bei Ovtcharov, der zuletzt international selten in Erscheinung trat, ohnehin keine Gedanken machen.

Timo Boll: 36 Jahre ist Timo Boll mittlerweile alt, dem Altern scheint sich Deutschlands lebende Tischtennislegende allerdings nicht wirklich fügen zu wollen. Zwar sind Bolls Ergebnisse wechselhafter geworden, doch gerade wenn hinter dem Rekordeuropameister einige beschwerdefreie Trainingswochen liegen und er sich in Wettkämpfen seinen Spielrhythmus hat holen können, zählt Boll nach wie vor zu den besten Spielern der Welt. Beides scheint dieser Tage der Fall zu sein: Seit den Deutschen Meisterschaften in Bamberg im März hat der Düsseldorfer sein Niveau stetig nach oben gefahren, der imposante Auftritt bei den Korea Open war nur der jüngste Beweis. Wichtiger als der erste Platz in Seoul waren für den Deutschen wohl die dazugehörigen Weltranglistenpunkte, mit denen sich Boll für Düsseldorf eine Setzung unter den besten Acht sicherte. Frühestens im Viertelfinale kann einer der Big Four aus China warten. Ma Long, Fan Zhendong, Xu Xin und Zhang Jike sind es auch, die für Boll in Düsseldorf unter normalen Umständen außer Reichweite sein werden. Doch selbst die würden gegen Boll nicht voller Siegesgewissheit in die Box gehen – erst recht nicht, solange sein Spiel aussieht wie das eines 20-Jährigen.

Bastian Steger: Dass die letztjährigen Olympischen Spiele von Rio de Janeiro ihren Preis einfordern würden, traf Bastian Steger nicht überraschend. Nachdem der mittlerweile ebenfalls 36 Jahre alte Routinier alles in die Vorbereitung für Brasilien gelegt und dort einen grandiosen Mannschaftswettkampf abgeliefert hatte, nahm sich Stegers Körper zum Start der neuen Saison eine Auszeit: Eine Entzündung des Sesambeins setzte den Bremer außer Gefecht. Erst im Februar stieg Steger wieder ins Wettkampfgeschehen ein. Spät, aber scheinbar nicht zu spät: Der 36-Jährige spielte bei den Slovenian Open zwar noch nicht am Leistungslimit – trotzdem gewann er das Turnier mit wertvollen Siegen über Akteure wie Kazuhiro Yoshimura oder Jon Persson. Keine Trainingseinheit ersetzt das Selbstbewusstsein eines Turniersieges. Auch wenn nach mehrmonatiger Wettkampfpause ein Restrisiko bleibt: Steger kennt seinen Körper und sein Spiel gut genug, um in Düsseldorf sehr nah an sein Maximum heranzureichen. Dann ist Steger ein Top-20-Spieler.

Patrick Franziska: Seit Patrick Franziska sich 2015 sensationell ins WM-Viertelfinale von Suzhou gespielt hatte, lief für den Neu-Saarbrücker nicht mehr viel zusammen. Der Körper streikte, die Form ging verloren, mit ihr der fast sicher geglaubte Platz im Olympia-Team und das Selbstvertrauen. Franziskas Karriere hatte nach zuvor raschem Aufstieg eine erste Delle abbekommen. Umso beeindruckender meldete sich Franziska, noch immer erst gerade einmal 24 Jahre alt, nun zurück: Nachdem er zwischen November und März abermals mit einer Hüftverletzung passen musste, spielte er sich im April ins Finale der Korea Open – und dort besser, als man es hätte erwarten können. Franziska scheint nicht nur das Vertrauen in seinen Körper, sondern auch in sein Spiel rechtzeitig vor Düsseldorf zurückgefunden zu haben. Ähnlich wie bei Steger dürfte der Spielraum für Leistungsschwankungen nach der Verletzungspause allerdings noch ein Stückchen größer ausfallen.

Ruwen Filus: Ruwen Filus gewann das verbandsinterne Race to Düsseldorf. Dass er in Düsseldorf für den DTTB starten wird, hat aus mehrfacher Perspektive seine Berechtigung: Filus hat sich auf einem sehr hohen Level stabilisiert und gehört konstant zu den besten 40 Spielern der Welt. Dafür lieferte Filus in dieser Saison einen weiteren Beweis. Ausreißer nach unten hat er für einen Abwehrspieler selten – Ausreißer nach oben dagegen regelmäßig: Mit seinem unberechenbaren Spielsystem ist er auch für viele Top-20- oder gar Top-10-Spieler eine Bedrohung. Zudem werden Filus und das Düsseldorfer Publikum voneinander profitieren: Sein Spiel zwischen Abwehrsichel und Rückhandpeitsche ist beliebt auf den Rängen – und wird zumeist besser, wenn er lautstarke Unterstützung von ebendort erhält.

Mister X: In den nächsten Tagen wird Bundestrainer Roßkopf bekannt geben, wer sein sechster Einzelstarter sein wird. Dass er sich bis nach dem Vorbereitungslehrgang in dieser Woche Zeit lässt, zeigt, dass ihm seine Akteure die Entscheidung nicht leicht machen. Das gilt besonders für die beiden wohl verbliebenen Kandidaten: Benedikt Duda und Ricardo Walther. Die Bergneustädter haben sich extrem positiv entwickelt, befinden sich mit ihren Ergebnissen nahezu auf einem identischen Level, zudem gelangen beiden immer wieder Erfolge gegen höher notierte Gegner. Letztlich wird sich Roßkopf wohl auf den Kandidaten festlegen, dem er auch in Düsseldorf am ehesten Favoritenstürze zutraut. Allerdings könnte sich der Bundestrainer die Wahl auch leichter machen: Nach seinem Erfolg über Panagiotis Gionis bei der – zugegeben: sportlich unbedeutenden – Legends Tour könnte sich Roßkopf in Düsseldorf zum einzigen Spielerbundestrainer machen. Passieren wird das aber freilich nicht.

(Jan Lüke)

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