Dimitrij Ovtcharov musste sich in Saarbrücken überraschend früh von seinen Fans verabschieden (©Fabig)
04.10.2016 - Das World Cup-Turnier am Wochenende in Saarbrücken hat kaum für eine Initialzündung für die nach-olympische Saison sorgen können. Aus Sicht unseres Bloggers Dietmar Kramer hat sich vielmehr die Serie von Dämpfern oder gar Rückschlägen für die deutschen Herren fortgesetzt. Was bedeutet das wohl für die Nominierung der EM-Fahrer? Auf wen wird Bundestrainer Jörg Roßkopf in Budapest setzen?
Das war dann wohl mehr als nur ein Satz mit X: Dass aus der ursprünglich geplanten Inszenierung der Neuauflage des ‚ewigen‘ Kampfes von Dimitrij Ovtcharov und Timo Boll gegen die Chinesen nix werden würde, stand zum Leidwesen von Fans und Organisatoren schon lange vor Beginn des World Cups in Saarbrücken aufgrund der verpassten Qualifikation von Boll fest. Nix wurde es aber schließlich auch aus der Hoffnung auf Ovtcharov, der womöglich quasi auch als ‚Alleinunterhalter‘ aus dem Prestigeturnier noch ein Tischtennis-Fest hätte machen können. Nix wurde es dadurch auch mit der erhofften Initialzündung für die postolympische Saison und dem damit verbundenen Rückenwind für das nächste Heimspiel schon im kommenden Frühjahr bei der Einzel-WM in Düsseldorf.
Es war zwar richtig und wichtig, dass Sportdirektor Richard Prause für den Deutschen Tischtennis-Bund (DTTB) auf die Schwierigkeiten von Topsportlern mit der Motivation nach einem Olympia-Turnier als Höhepunkt der mentalen Ausrichtung nicht nur einer Saison, sondern gleich von vier Jahren hinwies. Tatsächlich sind Ovtcharov und Co. glücklicherweise immer noch Menschen und keine Maschinen, wie der Ex-Profi ausführte. Erst recht mit Blick auf Ovtcharovs Wechselbad der menschlich wohl extremsten Gefühle nach der Geburt seines ersten Kindes vor einigen Wochen und dem Tod seiner Großmutter unmittelbar vor dem World Cup. Insbesondere vor dem Hintergrund des Schicksalsschlages für seine Familie ist Ovtcharov hoch anzurechnen, überhaupt in Saarbrücken angetreten zu sein und wenigstens versucht zu haben, den Erwartungen an seine Person als Nummer eins der Gastgeber-Nation gerecht zu werden.
Fortsetzung von Negativerlebnissen
So sehr sein Aus im ersten Pflichtspiel nach Rio schon im Achtelfinale gegen den unübersehbar aufstrebenden, allerdings noch nicht auf Augenhöhe mit Top-10-Spielern befindlichen Schweden Kristian Karlsson denn auch erklärbar ist, so sehr setzte sich in Saarbrücken aber nach zuvor vier World Cups mit deutschen Medaillengewinnern auch die Serie von Dämpfern oder gar Rückschlägen für die deutschen Herren fort. Dass für Bastian Steger ebenfalls in der Runde der letzten 16 – nach soliden, aber nicht überzubewertenden Pflichtsiegen gegen weniger gutklassige Kontrahenten – Endstation war, passte da wegen gleich fünf vergebener Siegchancen gegen den 14 Jahre jüngeren Franzosen Simon Gauzy leider nur allzu gut ins Bild.
Auch wenn erst wieder bei der EM im September 2017 in Luxemburg ein Mannschafts-Wettbewerb auf hohem Niveau auf dem Programm steht, lässt sich der fallende Trend besonders augenfällig an den – zumeist nicht in Bestbesetzung bestrittenen - Team-Wettbewerben der vergangenen Jahre ablesen. Nach Jahren schier erdrückender Dominanz zumindest auf dem Alten Kontinent scheiterten ‚die Chinesen Europas‘ zuletzt zweimal in EM-Endspielen (2014 gegen Portugal und 2015 Österreich), stürzten bei der WM im vergangenen März in Malaysia auf Rang 13 ab und mussten in Rio trotz Olympia-Bronze ihre Rolle als Nummer zwei hinter der Weltmacht China endgültig an den WM-Zweiten Japan abgeben.
EM-Nominierung für Budapest schwierig
Auch im Einzelbereich können Prause und Bundestrainer Jörg Roßkopf unter Berücksichtigung wenigstens der jüngeren Vergangenheit nur bedingt optimistisch auf die anstehende Einzel-Europameisterschaft ab dem 18. Oktober in Budapest und auch das große Saisonziel Düsseldorf blicken. Denn hatte Ovtcharov kurz nach seinem Bronze-Coup bei den Olympischen Spielen 2012 in London noch bis vor kurzem beinahe als nur noch von Chinas Topspielern schlagbar gegolten, so blieb der Europameister zuletzt ausgerechnet bei den drei bedeutendsten Turnieren eben nicht gegen die Weltmeister aus dem Reich der Mitte hinter seinen eigenen Erwartungen zurück: WM-Aus 2015 schon in Runde zwei gegen einen seinerzeit noch nicht zur Weltspitze zählenden Asiaten (Lee Sangsu), bei Olympia im Viertelfinale von einem 40-Jährigen (Vladimir Samsonov) düpiert, und nun in Saarbrücken unter jedoch unglücklichen Umständen von einem Europäer aus der zweiten Reihe (Karlsson) aus dem Rennen geworfen. Als Maß aller Dinge wenigstens in Europa kann Ovtcharov jedenfalls vorerst nicht mehr uneingeschränkt gelten, wenngleich der 28-Jährige bald sicherlich wieder konzentrierter und damit voraussichtlich erfolgreicher Kurs auf Tokio 2020 einschlagen dürfte.
Aber auch hinter der Form anderer Kandidaten für einen Platz in Roßkopfs EM-Kader stehen Fragezeichen. Bolls Saisoneinstand wurde bis Anfang Oktober wegen der Nachwirkungen seiner Nackenverletzung von Rio schon wiederholt verschoben, so dass der Rekordeuropameister bestenfalls mit Spielpraxis aus gerade einmal zwei Begegnungen nach Ungarn reisen würde, und Olympia-Ersatz Patrick Franziska leistete sich nach seinem Abschied von Borussia Düsseldorf auch bei seinem neuen Klub 1. FC Saarbrücken-TT im Pokal gegen Zweitligist Fortuna Passau auch schon wieder gleich zwei Pleiten gegen unterklassige Gegner. Rund läuft von den Spielern aus dem Establishment nur Steger einigermaßen - zudem macht zuletzt Benedikt Duda bei den Belgium Open verstärkt von sich reden.
Gretchenfrage: Erfolge oder Perspektive?
Nicht von ungefähr wohl steht das EM-Aufgebot für Budapest noch nicht fest. Es gilt womöglich auch abzuwägen, ob die Titelkämpfe noch mehr eine gute Gelegenheit für die heutigen Leistungsträger zur Stärkung des Selbstvertrauens sein können oder schon eine Chance für eine Reihe von Spielern der nachwachsenden Generationen zur Sammlung von internationaler Erfahrung sein sollen. Der notwendige Ehrgeiz für die Jagd nach Titeln und Medaillen ist Ovtcharov, Boll und Co. keineswegs abzusprechen. Doch braucht das Bronze-Trio von Rio die EM wirklich? Könnten die drei Olympia-Teilnehmer auch eingedenk der wegen der Sommerspiele doch sehr verkürzten Sommerpause nicht besser eine Wettkampfpause einlegen? Roßkopf wird beim EM-Lehrgang in der kommenden Woche in Düsseldorf vor Benennung seines Budapest-Kaders genau hinsehen und viel mit seinen Spielern sprechen (müssen).
Der Coach steht vor keiner leichten Entscheidung: Einerseits braucht der Herren-Bereich endlich einmal wieder ein überzeugendes Gesamtergebnis zur Umkehrung der auch atmosphärisch problematischen Tendenz, andererseits aber allmählich auch eine neue Perspektive.
(Dietmar Kramer)
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