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Dietmars Blog: Was passiert hinter Boll und Ovtcharov?

Für die Olympia-Quali geht Jörg Roßkopf mit dem erfahrenen Bastian Steger auf Nummer sicher (©Fabig)

21.03.2016 - Eine Frage, die vielen seit dem frühen WM-Aus der Herren unter den Nägeln brennt, wurde auch bei den NDM in der Box und bei der Nominierung für die europäische Olympia-Quali behandelt: Auf wen kann man sich hinter Timo Boll und Dimitrij Ovtcharov verlassen? "Patrick Baum" lautete die Antwort in Bielefeld, Bastian Steger ist der Mann für Rio. Doch was ist mit den jungen Wilden? Unser Blogger Dietmar Kramer blickt hinter die ‚goldene Generation‘ und sieht Handlungsbedarf.

Zeit zum Wundenlecken hatten Bundestrainer Jörg Roßkopf und Sportdirektor Richard Prause nach der Heimkehr von der Mannschafts-Weltmeisterschaft in Kuala Lumpur nicht gerade. Kaum aus Malaysia zurück - mit dem schwächsten Ergebnis der Herren seit 31 Jahren im Gepäck -, musste das Duo schon in die endgültige Detailplanung für das ganz, ganz große Ziel schlechthin einsteigen: die Olympischen Spiele im August in Rio de Janeiro. Nach monate-, ja sogar jahrelanger Vorbereitung auf das wichtigste Turnier seit 2012 war bei der Nominierung für die europäische Olympia-Qualifikation nach Ostern zugleich auch die Entscheidung über die Besetzung der dritten Position für den Mannschafts-Wettbewerb am Zuckerhut fällig. 

Steger-Nominierung unterstreicht Erfolgsdruck

Durch die Berufung von Bastian Steger als zweitem Spieler die Quali neben Rekordeuropameister Timo Boll - Spitzenspieler Dimitrij Ovtcharov hat als European Games-Sieger bereits automatisch sein Rio-Ticket in der Tasche - ist Roßkopf eindeutig auf Nummer sicher gegangen. Dass der Coach durch seine Personalentscheidung auch eine schmerzhafte, wenngleich absolut nachvollziehbare Konsequenz aus der herben WM-Enttäuschung zog, verdeutlichte nur die große Bedeutung eines sportlichen Erfolgs bei Olympia und den damit einhergehenden Druck: In Rio soll die 'goldene Generation' anders als in Fernost wieder liefern, wenigstens eine Medaille.

Unter diesen Prämissen erscheint Stegers Nominierung für die Quali, die praktisch gleichbedeutend mit der Nominierung für Rio ist, auch als eine Entscheidung nach dem Motto „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ oder anders gesagt: als Verzicht auf die übrigen Protagonisten aus der zweiten Reihe hinter den Top-10-Spielern Ovtcharov und Boll. Aufgrund des besonderen Spielsystems bei Olympia kann der Nummer drei in Rio besondere Bedeutung eben nicht nur als Doppelspieler zukommen, und eingedenk des absolut nicht auszuschließenden Risikos eines Ausfalls entweder von Ovtcharov oder Boll bietet Steger aufgrund seiner Erfahrung – der Routinier gehörte bei zwei der drei vergangenen WM-Turniere mit einer Silbermedaille ebenso zur Mannschaft wie vor vier Jahren bei Olympia-Bronze in London – eindeutig das größtmögliche Maß an erwartbarer Verlässlichkeit auch im Einzel und nicht nur im Doppel.

Olympia-Pläne sahen anders aus

Wie sehr die Entwicklung der 'Next Generation' jedoch Roßkopfs ursprünglichen Überlegungen für Rio zuwiderlief, verdeutlicht ein Rückblick: Insbesondere nach Stegers Ausfall für die Team-WM 2014 baute der Bundestrainer Patrick Franziska konsequent für die Rolle des dritten Manns für Olympia und nicht zuletzt auch als kommenden Spitzenspieler auf, ließ den früheren Jugendeuropameister schon in Nippon in allen entscheidenden Matches wichtige Erfahrungen sammeln, bei nahezu jeder sich selten genug bietenden Gelegenheit auch im Doppel vor allem mit Boll Abläufe lernen und holte das Talent auch als dritten Spieler in den A-Kader. Steffen Mengel erhielt, wenn auch nicht mehr als einer der 'jungen Wilden', gleichfalls mehrere Möglichkeiten zur Bewährung, erst noch bei den German Open Ende Januar in Berlin testete Roßkopf angesichts von Franziskas anhaltender Formkrise auch den Ex-Meister als potenziellen Doppelpartner für Boll. Diese Zusammenstellung macht Stegers ursprünglich geringe Chancen ebenso deutlich wie seine Zuschauerrolle noch im Herbst 2015 in Russland oder eine einzige Meldung für ein Doppel mit einem der beiden gesetzten Olympia-Fahrer (Ovtcharov) in den vergangenen 15 Monaten bei den German Open vor Jahresfrist in Bremen.

In Kuala Lumpur reichte Steger denn auch eine – trotz seines Blackouts gegen England - solide Leistung für das späte Olympia-Glück. Seinen Sinneswandel begründete Roßkopf durch eindeutige Kritik an Franziska wegen Mangels an Standfestigkeit in Drucksituationen und auch an taktischer Disziplin sowie an Mengel wegen fehlender Konsequenz bei der Verwertung von Erfolgschancen zwar nur indirekt, letztlich mit dem berechtigten Hinweis auf die zuletzt nicht mehr von der Hand zu weisende 'Verwundbarkeit' seines Teams aber überaus schlüssig.

'Ü30'-Team macht Zäsur unausweichlich

So sehr jedoch alleine Ovtcharov und Boll bei voller Gesundheit in Rio für die erhoffte Mannschafts-Medaille sorgen können, so wenig kann Roßkopf und der DTTB-Führung das Durchschnittsalter des Olympia-Trios von deutlich über 32 Jahren gefallen. Dass Ovtcharov mit dann fast 28 Jahren hinter seinen beiden sieben Jahre älteren Teamkameraden noch der 'Benjamin' sein wird, kann trotz des 'Oldie-Trends' in der Szene (Zoran Primorac/46, Werner Schlager/43, Vladimir Samsonov/39)  nicht der Anspruch des deutschen Teams sein. 

Entsprechend ist eine Zäsur nach Rio unausweichlich. Prophetische Gaben für die Voraussage eines Umbruchs sind allerdings auch nicht notwendig: Vom Olympia-Team hat lediglich Ovtcharov eine ernsthafte Erfolgsperspektive über die Heim-WM 2017 in Düsseldorf hinaus. Für Steger hätte Rio schon kein Thema mehr sein können, und hinter Bolls internationalen Plänen nach Düsseldorf 2017 ist – auch angesichts seiner zusehends anfälligeren Gesundheit - mindestens ein Fragezeichen erlaubt.

Nachwuchs kann Ernstfall in EM-Qualifikation lernen

Die fällige Frischzellenkur für die einstigen 'Chinesen Europas' sollte im Idealfall hinter Franziska ansetzen – mit Ovtcharovs Altersgenossen wie Mengel, Ruwen Filus oder dem neuen deutschen Meister Patrick Baum als Backups. Denn schon jetzt müssen die Weichen nicht nur für Tokio 2020, sondern auch schon für die darauffolgenden Sommerspiele gestellt werden. Besonders in den Blickpunkt rücken dadurch Spieler wie EM-Überraschung Ricardo Walther, aber vor allem die Mitglieder aus dem noch nicht allzu lange bestehenden, dafür jedoch durchaus weitsichtig angelegten U23-Kader wie Benedikt Duda und noch mehr wie Dennis Klein oder Dang Qiu. Bei günstigem und konsequentem Verlauf des Neuaufbaus wäre ein Tokio-Team mit Ovtcharov, Franziska und einem der genannten Talente zumindest keine unrealistische Vorstellung.

Die Vorzeichen sind auch deswegen gar nicht einmal ungünstig, weil besonders die neue EM-Qualifikation den jüngeren Spielern zusätzliche Möglichkeiten zur Beschleunigung des erhofften Reifeprozesses bietet. In der Ausscheidung kann der Ernstfall nicht nur geprobt, sondern auch tatsächlich gelebt, sprich; gespielt werden. Aktive wie Franziska können dabei weiter den Umgang mit Verantwortung lernen, die Nachwuchsriege kann sich im rauen Wind der Profis beweisen – und im Misserfolgs-Fall könnte ja noch ein Ovtcharov in den Play-offs einen Platz in der höchsten EM-Klasse sichern helfen.

(Dietmar Kramer)

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