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Dietmars Blog: Knaller zum Jahreswechsel

Dimitrij Ovtcharov und Patrick Franziska ließen kurz vor dem Jahreswechsel noch aufhorchen (©Fabig)

04.01.2016 - Dimitrij Ovtcharov schlägt öffentlich Alarm, Patrick Franziska überrascht mit einem Vereinswechsel – der ansonsten besonders auch im Tischtennissport ausgesprochen beschauliche Jahresausklang lieferte schon kurz vor Silvester zwei wahrhaftige Knaller und Gesprächsstoff, der bis ins neue Jahr vorhält. Unser Blogger Dietmar Kramer bewertet die bemerkenswerten Vorstöße der beiden Nationalspieler.

Da reiben sich Deutschlands Tischtennis-Fans noch heute die Augen: Mit ungewohnt offener Kritik an den Rahmenbedingungen im internationalen Tischtennis ließ Europameister Dimitrij Ovtcharov in einem Zeitungsinterview beachtlich lautstark aufhorchen und hielt seinen Sport damit – es geht also tatsächlich - ohne jeglichen aktuellen sportlichen Anlass in der nachrichtenarmen Zeit zwischen den Jahren im Gespräch. Dabei hatte sich die Szene gerade erst nach der vorherigen „Breaking News“ über den völlig unerwarteten Transfer des WM-Fünften Patrick Franziska vom Branchenführer Borussia Düsseldorf zum Bundesliga-Spitzenreiter 1. FC Saarbrücken wieder etwas beruhigt. Die Vorstöße der beiden Elitespieler sind in mehrerlei Hinsicht höchst bemerkenswert.

Franziskas Beweggründe geben Rätsel auf

Dabei sorgt besonders Franziskas Wunsch nach Luftveränderung für Verblüffung, bei so manchem Beobachter womöglich sogar auch für Unverständnis. Denn nicht nur Düsseldorfs Vereinsführung erwischte der nicht zu erwartende Entschluss des 23-Jährigen auf dem falschen Fuß, wie die Rheinländer in der Bestätigung des Transfers unumwunden erkennen ließen. Zudem gab Franziskas nebulöse Begründung für den Vereinswechsel mit dem Drang nach mehr Selbstständigkeit letztlich mehr Anlass zu Fragen als Antworten, erst recht, weil bis dato auch von keinerlei unüberbrückbaren Differenzen zwischen dem Mannschafts-Vizeweltmeister und dem Klub zu hören ist.

Umso mehr darf verwundern, dass ein in der Tat vielversprechender, gleichwohl aber weiterhin auch erst aufstrebender Spieler in einem anerkanntermaßen höchst professionell geführten und mithin vorbildlichen Umfeld wie beim Rekordmeister für sich nicht mehr die geeigneten Rahmenbedingungen zu sehen scheint. Rahmenbedingungen immerhin, die einst einem Jörg Roßkopf oder Vladimir Samsonov ebenso zur absoluten Zufriedenheit genügten wie heute ungeachtet aller Ausnahmeregelungen auch einem Timo Boll. Da von Düsseldorfer Seite glaubhaft, weil mit Hinweis auf die langfristigen Planungen mit dem Nationalspieler als potenzieller Nummer eins für die Post-Boll-Ära dargestellt wird, dass die Einigung auf eine Vertragsverlängerung nicht an finanziellen Fragen gescheitert ist, schießen Spekulationen in Ermangelung offen genannter und entsprechend nachvollziehbarer Gründe naturgemäß ins Kraut: Was mag Patrick Franziska, lässt man private Erwägungen als denkbare Motivation einmal außen vor, bewogen haben, seine noch junge Laufbahn schon zum jetzigen Zeitpunkt in eine andere Richtung zu lenken und auf vieles zu verzichten, wonach bisherigen Maßstäben zufolge doch ein deutscher Tischtennis-Profis in aller Regel strebt und das hierzulande nicht gerade alltäglich ist?

Spekulationen schießen ins Kraut

Seine denk- oder wenigstens vorstellbaren Motive geben vordergründig Anlass zu Zweifeln an der langfristigen Richtigkeit seines Entschlusses und auch an seinem bislang vermuteten Format. Nicht von der Hand zu weisen ist nämlich, dass in Düsseldorf der Rundum-sorglos-Betreuung für die Spieler zum Trotz – und zu einem gerüttelt Maß sicher auch deswegen – zweifellos höhere Ansprüche gestellt werden und dadurch zwangsläufig in Champions League und noch mehr in der Bundesliga ein entsprechend höherer Druck herrscht. War dieser Druck für Franziska zu hoch? Oder hat sich Franziska gerade auch wegen seines Verletzungspechs in den vergangenen Monaten selbst so sehr (zu sehr?) unter Druck gesetzt, dass der Hoffnungsträger diese mentale Belastung künftig nicht mehr im bisherigen Umfang zu tragen gewillt ist? 

Eine weitere Variante ließe Franziskas Perspektiven als künftiger Siegspieler leider ebenfalls fraglich erscheinen: War der Newcomer nach seinem Aufstieg in den vergangenen Jahren möglicherweise denn schon nicht mehr bedingungslos bereit, sich in einem Team mit Boll und anderen gestandenen Berufsspielern ein- und unterzuordnen? Fühlte sich Franziska trotz allen Rückhalts während seiner Verletzungspausen bereits nicht mehr ausreichend gewürdigt? Ist die Aussicht auf die Rolle der ersten Geige, die in Saarbrücken nicht zuletzt auch aufgrund der Kooperation mit dem dortigen Olympia-Stützpunkt winkt, schon zu verlockend gewesen? 

Mutmaßlich könnten auch Sorgen um die sportliche Zukunft zu einer Art Kurzschlussreaktion geführt haben: Immerhin geriet Franziska zuletzt vor allem aufgrund seiner Zwangspausen beim Vormarsch in die erweiterte Weltspitze in ungewohnten und gleich auch unerwartet heftigen Gegenwind, musste nach Jahren anhaltender Fortschritte vorläufig eine gewisse Stagnation konstatiert werden. Nicht auszuschließen erscheint deshalb, dass Franziska sich von einem doch recht radikal anmutenden Bruch und dem Neuanfang mehr Rückenwind und Motivation für einen maßgeblichen Schub zurück in die Erfolgsspur verspricht als von bekannten Mustern. 

Ovtcharov nicht nur in der Box die Nummer eins

Ob Ovtcharov, der Düsseldorf 2009 gleichfalls nach nur zwei Jahren als noch jüngerer Spieler schon wieder verließ, für Franziska bei der Wechselentscheidung ein Vorbild war, ist nicht bekannt. Wie sehr der heute 27-Jährige als selbstständiger Tischtennis-Unternehmer jedoch vor allem, aber eben nicht nur sportlich gereift ist, verdeutlichten kurz vor Silvester seine kritischen Anmerkungen zum Zustand des Tischtennissports. Zweifellos hat sich Ovtcharov durch seine Generalkritik, die der Olympia-Dritte ausdrücklich als Weckruf verstanden wissen will, nunmehr auch abseits der Boxen dieser Welt zur Nummer eins außerhalb Chinas aufgeschwungen. In Deutschland hatte zuvor seit Jörg Roßkopfs Glanzzeiten in den 90er Jahren niemand mehr den Mumm, Mängel oder gar tatsächliche Missstände ebenso offen wie präzise anzuprangern und sich damit für seinen Sport und nicht nur für die eigenen Interessen einzusetzen.

Gleichwohl erweist Ovtcharov bei aller Berechtigung für seine mahnenden Worte dem Tischtennis als neuer Meinungsführer durch seine drastische Wortwahl und seine Einschätzung des Sports als rückständig einen Bärendienst. Wenn selbst der beste Spieler Europas seinen Sport auf diese Weise beschreibt, kann es da verwundern, wenn mögliche neue Zuschauer nicht neugierig werden? Zudem empfinden gerade die Spieler selbst in ihrer großen Mehrheit Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache eben auch wie noch vor zehn Jahren eher als lästig denn als nützlich und überlassen damit Stars anderer Sportarten beinahe kampflos die Bühne für eine erfolgreiche Vermarktung. Ovtcharov zählt in dieser Hinsicht zwar absolut noch zu den progressivsten Akteuren und ist auch in aller Regel für die meisten Fragen offen, doch müsste der Europaspiele-Gewinner mehrmals, insbesondere regelmäßig und eben nicht nur einmal im Jahr solch beachtliche Interviews geben. Denn, das hat die Szene noch nicht umgesetzt, die Präsenz einer Sportart in der Öffentlichkeit resultiert längst nicht mehr ausschließlich aus dem wöchentlichen Wettkampf.

Lösung der Ball-Problematik unverzichtbar

Uneingeschränkt richtig liegt Ovtcharov allerdings mit seiner Kritik an der weiterhin ungelösten Ball-Problematik: Schon längst mehr als ein Jahr nach Beginn des Plastik-Zeitalters ist die weiterhin höchst unterschiedliche Qualität des Materials für den Sport weit über die Belange der Profis hinaus nicht akzeptabel. Zumindest für die wichtigsten Turniere und die World-Tour-Wettbewerbe als seine Aushängeschilder sollte der Weltverband nunmehr dringend verbindliche Vorschriften erlassen und Hersteller minderwertiger Produkte von den Ausschreibungen ausschließen. Die mangelhaften Bälle schaden dem Sport nachhaltig, und Konsequenz sollte auch im Profi-Sport zum Business gehören.

(Dietmar Kramer)

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