Wie weit wirft ihn seine Verletzung zurück? (©Roscher)
28.09.2015 - Timo Boll konnte den erwartungsgemäßen Sprung des deutschen Herren-Teams auf das EM-Podest nur vom Krankenlager aus verfolgen. Darüber hinaus zwingt ihn seine Knieoperation voraussichtlich zu teilweise erheblichen Änderungen seiner Saisonplanung bis zum Höhepunkt Olympia 2016. Unser Blogger Dietmar Kramer hat sich Gedanken über die Folgen des Eingriffs für Boll, die Nationalmannschaft und Borussia Düsseldorf gemacht.
Auf dem Krankenlager strahlte Timo Boll schon kurze Zeit nach seiner Operation wieder einigen Optimismus aus. Das Knie fühle sich gut an, ließ der Rekordeuropameister noch aus der Klinik heraus seine große Fangemeinde wissen. Mehr konnte Boll seiner Mitteilung zufolge noch nicht sagen. In Kürze jedoch dürfte sicherlich bekannt werden, wie lange der offenkundig unvermeidliche Eingriff den 34-Jährigen außer Gefecht setzen wird. Bis dahin wird Boll auch längst einen Plan B ausgearbeitet haben, um seinen Ausfall für die Europameisterschaften in Jekaterinburg und nunmehr sicher auch für den Weltcup Mitte Oktober im schwedischen Halmstad auf der Schlussrunde zu den Olympischen Spielen 2016 wieder wettmachen zu können.
Natürlich ist Boll selbst am meisten daran gelegen, möglichst rasch wieder auf die Beine zu kommen. Rio sollen seine fünften Sommerspiele werden, und abgesehen von der überhaupt nicht unwahrscheinlichen Möglichkeit der ehrenvollen Ernennung zum Fahnenträger des deutschen Teams will der erfolgreichste deutsche Spieler aller Zeiten am Zuckerhut einen sicherlich allerletzten ernsthaften Anlauf auf die sportliche Krönung seiner imponierenden Laufbahn durch eine Olympia-Medaille nehmen. Zwar dürfte seine grundsätzliche Teilnahme durch die OP angesichts von noch mehr als neun Monaten Zeit bis zum ersten Aufschlag mitnichten infrage stehen, doch bedenkt man, wie minutiös Boll in aller Regel die Etappen bis zu einem bedeutenden Großereignis vorbereitet, kann man sich leicht vorstellen, wie sehr die notwendig gewordene Änderung der Pläne den Weltranglistensiebten schon jetzt stört.
Auf Boll warten nämlich vergleichsweise harte Monate. Nachdem die frühere Nummer eins die erhofften Punkte für das Ranking bei der EM in Russland und beim Weltcup nun liegen lassen musste, wird Boll nach Ende seiner Rehabilitation mehr über die World-Tour-Turniere tingeln müssen als vorgesehen und vor allem mehr als ihm lieb ist, wenn der frühere WM-Dritte noch weiter seinen olympischen Master-Plan umsetzen und im Einzel-Turnier erst möglichst spät den Weg der beiden Chinesen kreuzen will.
Ein Rückschlag zur Unzeit
Gerade mit Blick auf Olympia hat die Operation Boll zur Unzeit getroffen. Just in den bevorstehenden Wochen hatte der Routinier in den Vorbereitungs-Modus für Rio schalten wollen. Dazu hätten natürlich nach der EM und dem Weltcup sicherlich immer wieder Einsätze am Tisch gehört, der Schwerpunkt indes hätte – mit Ausnahme der Mannschafts-WM Ende Februar in Kuala Lumpur – auf dosierten Trainingseinheiten und effizienten Regenerationsphasen – Stichwort Fitness und Frische – liegen sollen. Das Gegenteil dürfte nunmehr erforderlich sein: Schinderei für den Aufbau, Training, Spielpraxis, harte Wettkämpfe – ideal sieht aus seiner Sicht bestimmt anders aus.
War das Super-League-Engagement doch zuviel?
Möglicherweise aber lässt Boll in seiner Zwangspause auch noch einmal die vergangenen Wochen und Monate kritisch Revue passieren. Zwar wies der deutsche Rekordmeister bei der Bekanntgabe seines kompletten EM-Verzichtes ausdrücklich darauf hin, dass seine Knieprobleme nicht das Ergebnis von Überlastung seien. Da jedoch Experten und Fachliteratur eben genauso expressis verbis gerade bei Sportlern eine zu hohe Beanspruchung als Ursache für das bei Boll diagnostizierte Plica-Syndrom nennen, darf sein Pensum in der jüngeren Vergangenheit durchaus auch kritisch betrachtet werden.
Insbesondere sein abermaliges Super-League-Engagement während des Sommers in China raubte Bolls Körper die Gelegenheit zur Erholung von einer nicht geraden leichten Saison. Kann Boll nach seinen vielen Jahren in der Weltspitze und nahezu unzähligen Duellen mit Topspielern aus dem Reich der Mitte in den wenigen Wochen immer noch so viel lernen, dass der Ertrag den Aufwand rechtfertigt? In den zurückliegenden Jahren hatte Boll zwar stets den sportlichen Wert seines „Nebenjobs“ und die Vereinbarkeit der zusätzlichen Belastungen mit seinem auch nicht sonderlich leichten Alltag in Deutschland betont, doch inzwischen muss sich womöglich auch Boll verstärkt bewusst machen, nicht mehr der Jüngste zu sein, und seinen Körper, letztlich sein Kapital, noch mehr zu schonen. Weil Boll gerade darauf in der Vergangenheit mit Vorrang hat achten wollen, ist der Rückschlag für die frühere Nummer eins in gewisser Hinsicht auch als tragisch zu bezeichnen.
Bolls Ausfall auch für Nationalteam und Düsseldorf hart
Von den Auswirkungen ist aber natürlich nicht nur Boll betroffen. Der zumindest denkbare Verlust seiner beachtlichen Weltranglistenposition könnte auch die Hoffnungen der Nationalmannschaft auf einen großen Erfolg in Rio gefährden. Denn außer an Topspieler Dimitrij Ovtcharov hängt die Setzung der WM-Zweiten bei Olympia besonders auch von Boll ab. Verliert das Team von Bundestrainer Jörg Roßkopf Platz zwei im Mannschafts-Ranking, droht bei den Spielen im nächsten Sommer schon vor dem Finale ein Duell mit den so oder so schier unbezwingbar erscheinenden Chinesen – aus der in Reichweite scheinenden Silbermedaille kann somit auch ganz schnell Blech werden.
Zumal das ganz offensichtlich als Doppel für das olympische Mannschafts-Turnier eingeplante Duo Boll/Patrick Franziska nunmehr wertvolle Gelegenheiten zum Sammeln gemeinsamer Spielpraxis verpasst. Auch wenn Boll zuletzt mehrfach darauf hinwies, dass gute Spieler sich immer schnell aufeinander abstimmen können und seine Doppel-Erfolge mit verschiedenen Partnern diese These unterstreichen würden, steht sein frühes WM-Aus mit Chinas Topstar Ma Long bei den Titelkämpfen im vergangenen Frühjahr in Suzhou als Gegenbeispiel für den erwarteten Selbstläufer. Auch deswegen kommen auf Boll voraussichtlich Extraschichten in zumindest nicht eingeplantem Umfang zu.
Nicht zuletzt hat Bolls Verein Borussia Düsseldorf in der nahen Zukunft am Ausfall seines Spitzenspielers zu knabbern. Scheinbar hat sich Boll in den ersten Wochen der Saison bereits für seinen ohnehin vom Verletzungspech gebeutelten Klub (Achanta) gequält, vielleicht sogar letztlich geopfert, doch nunmehr stehen den Rheinländern in Bundesliga und Champions League schwere Wochen bevor. Ohne Boll und bestenfalls mit einem gerade erst wiedergenesenen Achanta könnte Düsseldorf nach den Spielen gegen das französische Top-Team Chartres ASTT sowie die Play-off-Rivalen Werder Bremen und 1. FC Saarbrücken-TT ziemlich unter Druck geraten.
Silberstreif am Horizont
Aber es gibt für alle auch einen Silberstreif am Horizont: In seiner Karriere ist Boll nach längeren Pausen aufgrund von Verletzungen oder anderen gesundheitlichen Problemen bislang zumeist mit erstaunlicher Stärke zurückgekehrt und hat so manch großen Coup gelandet. So gesehen muss die Knieoperation vielleicht noch nicht einmal ein schlechtes Omen sein.
(Dietmar Kramer)
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