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Dietmars Blog: Der Anfang der Post-Boll-Ära

Emotionaler Abschied: Voriges Jahr freute sich Timo Boll voraussichtlich zum letzten Mal über den Einzeltitel einer DM (©Steinbrenner)

24.02.2020 - Am Wochenende beginnt eine neuer Zeitabschnitt im deutschen Tischtennis. Durch den Verzicht von Deutschlands Topstar Timo Boll auf weitere Teilnahmen an den Nationalen Deutschen Meisterschaften bekommen die Titelkämpfe schon ab dem Turnier in Chemnitz einen anderen Charakter. Unser Blogger Dietmar Kramer beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern die anstehende NDM einen Vorgeschmack auf die am Horizont aufziehende Post-Boll-Ära geben wird.

Alles wird anders sein bei den Nationalen Deutschen Meisterschaften in Chemnitz. Alles? Gefühlt: ja, aber faktisch? Natürlich dürfte Timo Boll auch in der Sachsen-Metropole weiterhin in aller Munde und damit immer noch 'irgendwie' dabei sein und sein 2019 verkündeter Verzicht auf weitere Teilnahmen am wichtigsten deutschen Einzel-Turnier noch für so mancherlei Gesprächsstoff sorgen. Wenn man so will, ist Chemnitz aber eben auch der erste Vorbote der am Horizont unweigerlich aufziehenden Post-Boll-Ära, was zunächst vor allem eines bedeutet: Die DM wird - bei allem Respekt vor Dimitrij Ovtcharov oder auch einem Patrick Franziska - auf absehbare Zeit keinen wirklich echten Superstar des deutschen Sports, der Deutschlands Fahnenträger bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro ist, präsentieren können.

Die Bewertung von Auswirkungen dieser Tatsache sollte differenziert erfolgen. Fraglos fehlt dem Turnier nunmehr ohne Boll die ganz große Attraktion. Wo auch immer die NDM stattfanden, lockte spätestens seit Bolls Aufstieg in die Top 10 der Welt vor beinahe 20 (!) Jahren alleine sein Name auf der Teilnehmerliste zusätzlich viele Zuschauer besonders auch aus tischtennis-ferneren Kreisen und eben auch die zuvor oft vermissten Medien in die Halle. 

Erinnerungen an Abschiede von Schöler und Roßkopf

Gleichwohl wird Bolls Abwesenheit sicherlich nicht das Ende der NDM einläuten. Das war nach Ende der Karrieren eines Eberhard Schölers und später eines Jörg Roßkopf auch nicht der Fall, wobei die 'Ära Roßkopf' auch schon beinahe fließend in die 'Ära Boll' überging. Dieses Mal ist die Ausgangslage - formal jedenfalls - sogar noch günstiger. War Boll um die Jahrhundertwende für das deutsche Tischtennis der einzig absehbare und letztlich auch sichere Wechsel auf eine international erfolgreiche Zukunft, schlagen doch in Chemnitz durch Ovtcharov und Franziska immer noch ein Top-10-Star und ein weiterer Top-20-Spieler auf. Insgesamt sind sogar gleich vier Asse aus den ersten 50 der Weltrangliste dabei – eine größere Leistungsdichte in der Spitze sucht in Europa tatsächlich ihresgleichen.

Dennoch: Wer von nun an in den nächsten Jahren den Einzel-Titel gewinnen wird, ist ein Meister in Bolls Schatten. In der öffentlichen Wahrnehmung dürften die jeweiligen DM-Erfolge bis zu Bolls endgültigem Rücktritt immer auch mit dem Makel behaftet sein, dass der beste Deutsche aller Zeiten nicht mitgespielt hat, frei nach dem Motto: „Aber was wäre gewesen, wenn…“ Ovtcharov, Franziska und Co. dürfte es allerdings einerlei sein. Titel ist Titel - und auch diese Betrachtungsweise hat ihre Berechtigung, stehen doch alle infrage kommenden Gold-Kandidaten aufgrund ihres durchweg tadellosen Sportgeistes nicht im Verdacht, sich nach einem DM-Erfolg anmaßend über Boll erheben zu wollen und breitbeinig als die Nummer eins schlechthin in Deutschland zu kaprizieren.

Medieninteresse fraglich

Auf jeden Fall kleinere Brötchen sind nunmehr hinsichtlich der Medienpräsenz von NDM-Turnieren zu backen. Welch ein Interesse Boll besonders auch bei den TV-Sendern weckte, machte im vergangenen Jahr der Auflauf von Berichterstattern bei den zuvor als DM-Abschiedsvorstellung des Rekordmeisters deklarierten Titelkämpfen in Wetzlar deutlich: Was immer Boll bei einer DM auch machen würde - ob eine eindrucksvolle Bestätigung seiner Vormachtstellung im deutschen Tischtennis oder eben auch eine in der Regel sensationelle Niederlage gegen einen nationalen Konkurrenten: Die TV-Anstalten stuften die Auftritte des Weltstars in heimatlichen Gefilden zumeist als quotenträchtig ein. Ehrlicherweise gehört damit auch die Erkenntnis verbunden, dass sich die Aufmerksamkeit der Medien für eine Tischtennis-DM aber (leider) auch geradezu ausschließlich auf Boll beschränkte. Der Verlauf der künftigen Entwicklung in diesem Bereich ist für die kommenden Jahre einer der interessantesten Aspekte bei der Frage nach dem Stellenwert von NDM-Turnieren.

Einen nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wichtigen Schritt stellt das 'Facelifting' der NDM, das in Chemnitz erstmals greift, dar. Das kompaktere Format mag Anhängern der 'reinen Tischtennis-Lehre' womöglich nicht behagen, ist aber eine, wenn nicht die angemessene Antwort auf den Zeitenwandel: Eine DM ist längst schon nicht mehr nur die Ausspielung des Besten der Besten aus Deutschland, sondern hat auch Event zu sein.

Terminänderung als mögliche Problemlösung

Dazu kann womöglich auch eine Debatte über den Termin des Turniers gehören. So sehr aus dem angestammten Wochenende Anfang März eine durchaus auch lieb gewonnene Tradition erwachsen sein mag, so sehr passt die NDM in den vergangenen Jahren immer seltener noch wirklich in den Wettkampfkalender der absoluten Elitespieler, die aber jeder Fan doch gerne bei der nationalen Topveranstaltung sehen möchte. Hier schließt sich auch der Kreis zu Bolls DM-Verzicht, weil Rücksicht der internationalen Terminplaner auf die Belange einzelner Länder nur bedingt zu erwarten ist - und abhängig von der jeweiligen Sichtweise auch gar nicht angebracht sein muss.

Eine (in den internationalen Gremien abgestimmte) Verlegung auf einen anderen Termin würde sogar in anderer Hinsicht Sinn machen: Nach der geglückten Integration des Tischtennis ins Programm von „Die Finals 2020“ durch das TTBL-Endspiel könnte durch eine solche Entzerrung des Terminplans auch eine weitere Annäherung an die Planung der Organisatoren hinsichtlich einer Fortführung der Partnerschaft ermöglichen, die durch die Aufnahme der NDM ins Programm mehrere positive Aspekte mit sich bringen könnte: Tischtennis würde bei der Multi-DM nicht mehr als einzige Sportart noch zusätzlich Aktive aus anderen Ländern aufbieten müssen, sondern könnte durchweg seine einheimischen Asse einem breiten Publikum präsentieren, und zum anderen könnte – ein geschickter Zeitplan vorausgesetzt – endlich auch einmal ein DM-Endspiel live übertragen werden. Ob mit oder eben auch ohne Timo Boll.  

Die Realisierung eines solchen Projektes hätte also viele Gewinner. Vor allem würden die NDM auch in der Post-Boll-Ära für alle - Aktive, Zuschauer und Medien - attraktiv bleiben.

(Dietmar Kramer)

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