Buntes

Hongi Gotsch: Defensiv-Ass, Dinosaurier, Landschaftsmalerin

Die 50-jährige Qianhong Gotsch ist die beste Spielerin der Bundesliga (©Roscher)

23.02.2019 - Wer ist die beste Spielerin der Damenbundesliga? Die frischgebackene Europe-Top-16-Siegerin Petrissa Solja vielleicht? Oder Doppel-Europameisterin Kristin Lang? Falsch geraten! Es handelt sich um Qianhong Gotsch von der SV Böblingen, die bis zum neunten Spieltag eine tadellose Bilanz von 18:0 aufwies. Das Besondere an ‚Hongi‘? Die Gärtringerin ist 50 Jahre alt und bringt ihre jungen Gegnerinnen mit ihrem defensiven Spielsystem reihenweise zur Verzweiflung.

Dass man Tischtennis auch in späteren Semestern des Lebens spielen kann, ist bekannt. Dass man mit 50 Jahren beste Spielerin der Damen-Bundesliga ist und sich mit der amtierenden deutschen Meisterin und Mixed-Europameisterin Han Ying um den ersten Platz in der JOOLA-Rangliste streitet, ist dann aber doch ungewöhnlich. Qianhong Gotsch, gemeinhin nur ‚Hongi‘ genannt, bringt dieses Kunststück zustande. Als Dauerbrenner der SV Böblingen ist die gebürtige Chinesin seit Jahren ein Punktegarant und schlägt dafür eine Nationalspielerin nach der nächsten in die Flucht. So musste Gotsch erst am zehnten Bundesligaspieltag ihre erste Niederlage hinnehmen, nachdem sie die Saison mit einer sagenhaften Bilanz von 18:0 begonnen hatte. Einen Hauptgrund für ihren Erfolg sieht sie dabei durchaus auch in ihrem Spielsystem, das in Richtung moderne Abwehr geht. „Früher haben die Leute gesagt, ich spiele ‚Mischmasch‘“, erinnert sich Gotsch. „Ich spiele zwar Abwehr, benutze sie aber vor allem, um meine Angriffe vorzubereiten. Man weiß nie, wann ich angreife oder was als nächstes kommt. Ich bin quasi unberechenbar.“

Gotsch malt komplettes Bild

Dieser Variantenreichtum, den sie in ihren Schlägen und taktischen Möglichkeiten besitzt, macht für sie den Reiz des defensiven Spiels aus. „Wenn ein Offensivspieler ein Bild malt, malt er nur eine Figur. Aber ich setze auch noch ein paar Bäume, einen See und eine Hütte daneben. Da ist alles drin“, beschreibt die Gärtringerin die Vielfalt ihres Spielsystems. „Als defensiver Spieler braucht man das Doppelte an Ausbildung im Vergleich zu einem rein offensiven Spieler. Ich brauche alle Techniken, damit ich alle miteinander kombinieren kann. Abwehr muss nicht immer nur defensiv sein. Wir können den Gegnern auch Stress bereiten.“ Sie selbst begann ihre Tischtenniskarriere in China als normale Angriffsspielerin. Unter den sechs Mädchen ihrer Schulgruppe war sie jedoch stets die Schlechteste, so dass ihr Trainer sie schließlich kurzerhand zur Abwehrspielerin umfunktionierte, damit ihre Kameradinnen das Spiel gegen Abwehr besser trainieren konnten. 

Eine wegweisende Entscheidung, wie sich herausstellte, denn von diesem Spielsystem rückte Gotsch von da an nicht mehr ab und gewann nach ihrem Umzug nach Deutschland in ihrer kurzen, zweijährigen Karriere als deutsche Nationalspielerin zwei Pro-Tour-Turniere, zweimal das Europe Top 12 und die Europameisterschaft 2000 in Bremen. Danach beendete sie ihre internationale Laufbahn wieder und widmete sich der Familienplanung. Für die Nationalmannschaft wäre sie allerdings selbst jetzt, mit 50 Jahren, noch gut genug. Eine Option für die 50-Jährige? „Nein, das sollen die jungen Leute machen. Das war damals eine schöne Zeit, aber auch viel Aufwand. Der Zug ist abgefahren.“ Dass sie die ‚jungen Leute‘ in der Bundesliga noch reihenweise aus der Box jagt, freut Gotsch hingegen schon. „Das ist unfassbar, ich bin selbst überrascht und freue mich wie ein Honigkuchenpferd. Normalerweise ist im Tischtennis mit 30 Jahren langsam Schluss. Ich bin wie ein Dinosaurier, ein Museumsstück“, findet sie. „Die jungen Leute spielen alle mit voller Kraft, ich arbeite mit vielen Schnittwechseln und mache mir viele Gedanken um meine Taktik. Ich denke, da sind die meisten einfach überfordert.“

„Zu viele Regeländerungen“

An ihrem Material liegt das ihrer Meinung nach jedoch nicht. „Das ist ganz harmlos“, findet Gotsch, die auf der Vorhand mit den kurzen Noppen eines Friendship 563 und auf der Rückhand einen Noppen-Innen-Belag der Sorte Friendship 729 spielt. „So kann ich mit der Vorhand schnell schießen und mit der Rückhand meine Schnittwechsel machen.“ Das hohe Tempo ihrer jungen Gegnerinnen bereitet ihr dabei keine Probleme. Schließlich trainiert sie nun, da ihre Kinder groß sind, wieder drei- bis viermal in der Woche. Vier Spiele hintereinander, wie bei der Pokalvorrunde im September, als sie die letzte Partie gegen Sarah de Nutte mit 0:3 verlor, steckt sie hingegen nicht mehr so leicht weg. „So viele Spiele hintereinander sind schon eine Herausforderung für mich, also drei Stunden ununterbrochen Tischtennis spielen kann ich nicht mehr“, verrät Gotsch. Und auch mit Penholderspielern tut sie sich schwer. „Die sind für alle Abwehrer unangenehm. Sie haben ein unheimlich hohes Tempo, spielen schnelle Stoppbälle und treiben einen hin und her, rückwärts und vorwärts.“ 

Da hilft es natürlich nicht, wenn bestimmte Regeländerungen ihr das Leben noch zusätzlich schwer machen. Gemeint sind die Veränderungen des Balles, die Gotsch wie so vielen Abwehrspielern Probleme bereiten. „Erst wurde der Ball größer, dann wurde der Plastikball eingeführt. Darauf mussten sich natürlich alle einstellen, aber für Abwehrspieler war dies deutlich schwieriger, weil wir einfach nicht mehr so viel Schnitt erzeugen können. Ich verstehe, dass man Tischtennis für die Zuschauer interessanter machen möchte. Aber es gibt zu viele Regeländerungen, das regt mich schon auch auf.“ Dem Spielsystem Abwehr prophezeit ‚Hongi‘ aber auch abgesehen davon keine rosige Zukunft. Zu langwierig sei die Ausbildung, bis man ein kompletter Spieler ist. Diese nötige Ausdauer und Geduld sieht Gotsch auch als Hürde für den gesamten Tischtennissport. „Im Tischtennis braucht man viele Techniken. Fußball oder Handball lernt man viel schneller. Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft unseres Sports.“ Auch ihre eigenen Kinder hat der Zauber des kleinen weißen Balles nicht gepackt. Ihr Sohn Timo spielt Fußball, ihre Tochter Hannah ist Leichtathletin. „Heute haben die Kinder so viele Möglichkeiten. Als ich klein war, war es einfach eine ganz andere Zeit. Ich kann nichts anderes als Tischtennis spielen.“ Aber das beherrscht Qianhong Gotsch zumindest in Deutschland wie kaum eine Zweite.

(JS)

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