WM 2018

2:0, Matchball und doch noch verloren - Zepp gibt Tipps!

Sabine Winter befand bei der WM in Halmstad oft in schwierigen Situationen (©Thomas)

06.05.2018 - In dieser Situation war sicher jeder schon einmal: Man führt locker mit 2:0, hat den Gegner fest im Griff, vielleicht erspielt man sich sogar einen Matchball im dritten Satz - und dann gleitet einem das Spiel noch aus den Händen. Sabine Winter geriet in der Vorrunde der WM in Halmstad gegen Korea in genau diese Situation. Deutschlands Team-Sportpsychologe Christian Zepp erklärt, warum so etwas passiert, und gibt Tipps, was man dagegen tun kann.

Eine Horrorvorstellung: Es steht 2:2 im WM-Vorrundenspiel zwischen Deutschland und Korea und man muss ins alles entscheidende Einzel gegen Koreas Nummer eins in die Box. Die ersten zwei Sätze gewinnt man auch noch locker, erkämpft sich einen Matchball im dritten, doch der Satz geht überraschend noch verloren. Die Gegnerin bekommt Aufwind und holt sich den Sieg - und damit den Triumph Koreas - schließlich noch im fünften Satz. In diesem Moment hatte Sabine Winter, die sich in Halmstad in genau dieser Situation befand, sicherlich das Mitgefühl von ganz Tischtennisdeutschland auf ihrer Seite. Denn dieses Phänomen, dass man ein Spiel nach anfänglich klarer Überlegenheit noch aus der Hand gibt, kommt nicht nur im Topsport vor, sondern ist auch in den Amateurklassen häufig anzutreffen. Ein mentales Problem? Wir sprachen mit dem Sportpsychologen Christian Zepp, der in Halmstad die deutsche Nationalmannschaft betreut, wie man mit solch einer Situation am besten umgeht - ob in der Kreisklasse oder bei einer WM.

Der nächste Punkt ist der wichtigste!

Die erste kritische Situation besteht, wenn man sich den Matchball erspielt und die Chance hat, den Sieg für das Team einzutüten. „Die Frage ist: Worauf konzentriere ich mich hier? Egal, in welcher Sportart denken viele Athleten nun: Wenn ich diesen Punkt mache, haben wir gewonnen“, erläutert Zepp. „Der Sportler ist also damit beschäftigt, über die Konsequenzen in der Zukunft nachzudenken.“ Wenn der Matchball nicht verwandelt wurde und die Partie in den nächsten Satz geht, bewegen sich die Gedanken laut Zepp dann häufig in die andere Richtung: „Hier beschäftigt man sich oft mit dem Satz, der vorher verloren wurde. Das heißt, man ist gedanklich entweder in der Zukunft oder in der Vergangenheit - aber nie im Hier und Jetzt.“ Dass dies nicht förderlich für den gegenwärtigen Moment ist, leuchtet ein. Doch wie kommt man da raus? „Es geht immer darum: Der nächste Punkt ist der wichtigste! Es ist tatsächlich so banal und wahrscheinlich kann den Satz kein Spieler mehr hören, aber genau darum geht es. Denn ich brauche meine Konzentration zu 100 % bei diesem Aufschlag oder bei diesem Rückschlag. Und es darf nicht wichtig sein, was in der Zukunft ist oder was in der Vergangenheit war. Denn beides kann ich nicht verändern. Das Einzige, was ich kontrollieren kann, ist, wie ich jetzt den Ball spiele.“ An dieser Fokussierung auf die Gegenwart arbeitet Zepp mit vielen Sportlern - ob das nun im Tischtennis, Fußball oder anderen Sportarten ist. Denn letztlich ist es immer dasselbe Problem: Der Blick in eine mögliche, rosige Zukunft, wenn man diesen Punkt macht oder diesen Elfmeter verwandelt, ist schließlich nur menschlich.

Gehen wir in die nächste kritische Situation: Das Spiel wurde auf diese dramatische Weise noch verloren, doch die nächste Partie ist nicht fern. Sabine Winter bekam bei der WM zwar einen Tag Pause, im Spiel gegen Luxemburg stand sie dann jedoch wieder im Aufgebot. Wie kann man das Erlebte schnell abhaken, um der Mannschaft beim nächsten Spiel wieder helfen zu können? Für Christian Zepp ist es nicht nur normal, dass man sich mit dem vergangenen Spiel noch beschäftigt, es ist sogar gut, dass man das tut. „Man muss sich selbst erst mal Raum geben, sich darüber zu ärgern. Die Emotion muss raus“, betont der Sportpsychologe und erzählt von Trainern und Sportlern, die sich selbst eine Frist setzen, bis zu der sie sich ärgern dürfen. Danach beginnt die Vorbereitung auf das nächste Spiel. „Die schauen auf ihre Uhr und sagen: Bis jetzt war es okay, dass ich mich damit beschäftigt habe, warum wir verloren haben. Aber jetzt geht es wieder weiter! Erst beschäftigt man sich mit der Niederlage und den Dingen, die alle nicht gut waren, bevor man dann seine Aufmerksamkeit auf mögliche Lösungen für die Situation lenkt - und überlegt, was man aus dem Match mitnehmen kann, dass man das nächste Spiel wieder erfolgreich bestreitet.“

Déjà-vu-Erlebnis?

Doch dann steht man im nächsten Spiel, führt wieder mit 2:0 - und wieder droht einem, die Partie noch zu entgleiten. Sabine Winter gewann die ersten beiden Sätze gegen Sarah de Nutte und verlor den dritten nach drei eigenen Matchbällen noch mit 14:16. Ein Déjà-vu-Erlebnis? „Da kommen die Erinnerungen natürlich wieder zurück, wenn so etwas noch nicht vernünftig verarbeitet wurde, was in diesem kurzen Zeitraum hier extrem schwer ist“, erklärt Zepp. „Aber auch hier beschäftigt man sich wieder mit der Vergangenheit und das ist nicht hilfreich. Wenn ich merke, dass meine Gedanken dahin abdriften, muss man versuchen, das zu unterbrechen und seine Selbstgespräche aktiv zu steuern. Wir nennen das Gedankenstopp, den man z.B. durch ein Wort oder eine Geste selbst einleitet. Und dann kommt ein positiver Konter wie zum Beispiel: Ich pack die noch!“ 

Für Sabine Winter kam in dieser Partie tatsächlich noch das Happy End. Im fünften Satz erspielte sich de Nutte drei Matchbälle, doch diesmal war es die Deutsche, die zurückkam und sich den Sieg noch mit 12:10 holte. Was sagt der Sportpsychologe dazu? „Überragend, einfach überragend. Da hat sie sich selbst bewiesen, dass sie es kann. Und wenn man mit so einem Erfolg ein Spiel abschließt, geht man in das nächste mit breiter Brust. Eine bessere Bestätigung für die eigene Kompetenz gibt es fast gar nicht.“ Obwohl Winter es nach diesem Spiel nicht mehr schaffte, für ihr Team zu punkten, ging sie mit einem positiven Gefühl aus der WM. Im Interview mit dem Bayerischen Tischtennisverband sagte sie: „Natürlich tun knappe Niederlagen weh, aber schon jetzt denke ich etwas positiver, weil ich vor einigen Wochen noch nicht das Niveau hatte, schon wieder gegen diese Spieler knapp vor einem Sieg zu stehen, sondern ich wurde eher aus der Box gejagt. Es geht spielerisch also bergauf, auch wenn es mir teilweise zu langsam geht, ist das Wichtigste, dass es voran geht und ich hoffe, in der nächsten Jahreshälfte wieder meine Bestform zu finden und dann auch solche Spiele zu gewinnen. Also trotz der Niederlagen habe ich etwas Selbstvertrauen dazugewonnen. Dem jage ich ja schon eine ganze Weile hinterher.“ Wir drücken die Daumen, dass sie bald wieder voll darauf zurückgreifen kann.

(JS)

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