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Jans Blog: „Ach, diese Woche ist EM?“

So begeistert wie diese französischen Fans fiebern wohl die Wenigsten der EM in Nantes entgegen (©Stosik)

02.09.2019 - Wissen Sie, dass in dieser Woche die Team-EM in Nantes stattfindet? Als fleißiger myTischtennis.de-User erzählen wir Ihnen da sicherlich nichts Neues. Doch unser freier Redakteur Jan Lüke beobachtet unter den Otto-Normal-Spielern in den Sporthallen ein ziemliches Desinteresse am kontinentalen Turnier. Wie konnte die EM so an Stellenwert verlieren? Welche Fehler wurden in der Vergangenheit gemacht? Das überlegt Lüke in seinem Blog.

Der Blick auf die Basis ist bisweilen heilsam: Welchen Stellenwert eine Europameisterschaft im Tischtennis für die Aktiven in den Landesligen oder Kreisklassen hat, lässt sich in den Sporthallen des Landes ergründen. Die morgen beginnende EM in Nantes? Ist dort kaum einmal Thema. Falls doch, fallen Sätze wie „Ach, diese Woche ist EM?“ Dann wird weiter über Philippe Coutinho oder den letzten Griechenland-Urlaub geplaudert.

Kuddelmuddel der Wettkämpfe

Die zuständigen Verbände haben die Europameisterschaften in den vergangenen mehr als zehn Jahren sukzessive entwertet. Aus dem einst prestigeträchtigen Turnier, in dem alle zwei Jahre Europameister in allen Disziplinen gesucht wurden, ist ein Kuddelmuddel der Wettkämpfe geworden. Erst wurde das Turnier ab 2008 nicht mehr alle zwei Jahre ausgetragen, sondern jährlich. Dann wurde das Mixed abgespalten. Dann ein alternierender Rhythmus eingeführt, in dem sich Mannschafts- und Individualwettbewerb abwechseln. Das Mixed, das einige Jahre in einem separaten EM-Turnier ausgetragen worden war, wurde schließlich wieder zur Einzel-EM zugeordnet. Zwischendurch führte man noch eine zusätzliche U-21-EM ein und entschlackte den Qualifikations-Modus für die EM. Der gemeine Beobachter hat längst den Überblick verloren. Die EM läuft unter dem Radar der Öffentlichkeit, sogar der tischtennisinteressierten. Und auch bei den Topspielerinnen und Topspielern hat das Turnier an Stellenwert eingebüßt.

Dass die EM in höherer Taktung ausgetragen wird, ist Teil eines übergeordneten Problems: Die Kritik an einer immer stärkeren Flut an Turnieren ist nicht neu, Spieler und Trainer tragen sie seit längerer Zeit wie ein Mantra vor sich her. Geändert hat sich in jüngerer Vergangenheit dennoch nichts. Im Gegenteil: Die Turnierkalender der Spitzenspieler werden immer voller. Seitdem die ITTF ihre Weltranglistenberechnung umgestellt hat, müssen die Profis häufiger auf der World Tour auftauchen, wenn sie im Ranking hoch gelistet werden wollen. Sportlich sind die Turniere der Weltserie dadurch attraktiver geworden, finanziell aber gerade für die zweite Garde im Topsport ein Zuschussgeschäft. Die ITTF will bei den Preisgeldern zeitnah nachbessern, noch aber müssen die Spielerinnen und Spieler ihre Verbände oder Sponsoren zur Kasse bitten oder ihr Geld woanders verdienen, um ihre World-Tour-Auftritte querzufinanzieren. Das tun sie etwa in Malaysia oder Indien: Mit T2 und Ultimate Table Tennis sind finanziell lukrative Formate hinzugekommen, die obendrein attraktiv sind, weil sie Tischtennis anders vermarkten und verkaufen. Dass die Spielerinnen und Spieler in den neuen Ligen und Turnieren in den boomenden Tischtennismärkten dabei sein wollen, ist nachvollziehbar. Und dennoch: Es sind die nächsten Einträge in einem Kalender ohne freie Tage. Die alten Verpflichtungen sind derweil geblieben – in Vereinen, bei nationalen Meisterschaften oder internationalen Turnieren.

Dieses Jahr besonders absurd

Die Mannschafts-EM ist in diesem Jahr ein besonders absurder Fall, weil sie nur wenige Wochen nach den European Games stattfindet. Erst im Juni hat Europa in Minsk seine Besten gesucht und gar mit der direkten Olympia-Quali belohnt, was die Europaspiele für viele Athleten und Verbände attraktiv machte. Nun geht die Suche nach der besten Mannschaft des alten Kontinents wieder von vorne los. Auf den Vorschlag, den zum Beispiel DTTB-Sportdirektor Richard Prause äußerte und den auch ITTF-Präsident Thomas Weikert unterstützte, die beiden Turniere zusammenzulegen, ging man nicht ein. Hinzu kommt: Die Topnationen befinden sich längst in ihrer Vorbereitung auf die Olympischen Spiele im kommenden Sommer in Tokio. Wann bleibt Zeit für intensive Trainingsblöcke? Wann kann man dem Körper Pausen gönnen, um Verletzungen zu vermeiden? Wo lohnt ein Turnierbesuch, um Weltranglistenpunkte für eine gute Setzung zu holen? Ein erfolgreicher Olympia-Start wird jetzt geplant. Und in diese Planungen muss jetzt eine EM eingewoben werden. Erst kürzlich erklärte Bundestrainer Jörg Roßkopf die achtbaren Siege von Lin Yun-Lu gegen Ma Long und Fan Zhendong beim T2-Diamond-Turnier damit, dass die Topchinesen derzeit überspielt seien. Hartes Training und permanente Turniereinsätze – das geht auch an den Weltbesten nicht spurlos vorüber. Leidtragende sind auch die Zuschauer.

Dass der DTTB offenbar ernsthaft mit dem Gedanken spielte, seine Topspieler Timo Boll und Dimitrij Ovtcharov, mittlerweile beide über 30 Jahre alt, nicht für die EM in Nantes zu nominieren, ist bemerkenswert. Es zeigt auch, auf wen der Weltverband die Verantwortung für das Wohl seiner Athleten abwälzt: auf die Trainer und Spieler. An den Spielern wird aus allen Richtungen gezerrt – von Vereinen, Herstellern und Sponsoren oder nationalen Verbänden. Das geht irgendwann auf Kosten der Qualität des Sports: Athleten verletzen sich, rutschen überspielt in eine Formkrise oder können sich nicht gewissenhaft auf Großereignisse vorbereiten, weil ihnen vor lauter Wettkampfterminen die Zeit zum Training fehlt. Eigentlich sollte Europa- und Weltverband gemeinsam mit den Athleten erarbeiten, wie man den Topsport nachhaltig und im Ausgleich aller Interessen weiterentwickeln kann. Es wäre im Interesse aller Beteiligten. Dann weiß die Basis in den Sporthallen landauf landab irgendwann auch wieder, wenn gerade eine Europameisterschaft stattfindet.

(Jan Lüke)

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