Timo Boll bleiben wahrscheinlich nicht mehr viele Gelegenheiten zum ganz großen Wurf (©dpa Picture-Alliance)
01.08.2016 - Was die Zukunft bringen mag, ist den deutschen Startern in Rio de Janeiro wenige Tage vor der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2016 wahrscheinlich herzlich egal. Unser Blogger Jan Lüke wagt dennoch einen Blick in den nächsten Olympia-Zyklus und erkennt, dass die Spiele in Rio wohl einen Einschnitt darstellen werden. Für die Goldene Generation der deutschen Herren könnte dies vorerst die letzte Gelegenheit zum ganz großen Wurf sein.
Sind wir ehrlich: Der Begriff der Goldenen Generation ist ein bisschen abgegriffen. Was er in der Sportsprache meint, ist dennoch unzweifelhaft: Wenn eine Nation gleich mehrere derart talentierte Athleten in einer Sportart hervorbringt wie in dessen Historie nie zuvor. Das gab und gibt es quer durch alle Disziplinen – freilich auch im Tischtennis. Spricht man von den Schweden, meint man die lange Ära von Appelgren, Persson und Waldner. Spricht man von den Ungarn, so sind – trotz der Erfolge ihrer Vorgänger in den 1930er Jahren um den legendären Victor Barna – zumeist die erfolgreichen 1950er Jahre gemeint, als Klampar, Sido & Co. den ‚state of the art‘ in ihrer Sportart prägten.
Deutsche Spieler so gut wie nie zuvor
Blickt man in die Geschichte des deutschen Herren-Tischtennis, ist diese Zeit… – tja, Treffer! Diese Zeit liegt im Jetzt und Hier. Nie waren Deutschlands Männer stärker als dieser Tage und dieser Jahre. Sie wissen um zwei Spieler mit Top-Ten-Format, der eine im Zenit seines Schaffens, der andere noch nicht wesentlich darüber hinaus. Sie versammeln dahinter stets Akteure aus den ersten 20 oder 30 der Weltbesten, deren Namen zwar mitunter wechseln, aber die nie ausbleiben. Das gab es in einer derartigen Dichte und Konstanz niemals zuvor im deutschen Tischtennis, auch nicht in den Spielergenerationen um Größen wie Jörg Roßkopf oder Eberhard Schöler. Aus dieser Ballung von beeindruckendem Talent hat Deutschlands Nationalmannschaft in der letzten Dekade einiges gemacht. Sie hat EM-Titel in Serie gewonnen, WM-Medaillen und sogar: gleich mehrere Olympiamedaillen.
Nun ist es jedoch nicht unwahrscheinlich, dass die Olympischen Spiele von Rio de Janeiro für die DTTB-Männer einen nennenswerten Einschnitt darstellen werden. Es könnten die letzten Olympischen Spiele werden, in denen sich die Goldene Generation auf der Höhe ihrer Schaffenskraft präsentieren wird. Am Ende des kommenden Olympiazyklus‘, wenn die Olympischen Spiele 2020 in Tokio Station machen, werden die Dinge anders liegen als heuer: Timo Boll wird dann beinahe 40 Jahre alt sein. Das lässt zumindest die Wahrscheinlichkeit sinken, dass er auf einem Niveau spielen kann, dass olympisches Edelmetall als Zielvorgabe realistisch erscheinen lässt. Was nicht heißt, dass es nicht möglich sein kann. Die Tür aber geht auch für einen wie Boll mit dessen ergonomischer und geschmeidiger Spielweise wieder ein Stückchen weiter zu. Das allein schon würde das Team merklich schwächen – und setzt schon voraus, dass Ovtcharov sein immens hohes Niveau vier weitere Jahre wird bestätigen können und dass Patrick Franziska die Konstanz wiederfindet, die ihn bis zu einem Formeinbruch vor knapp einem Jahr ausgezeichnet hatte.
Nachfolger? Fehlanzeige!
Warum ich keine frischen Namen ins Spiel bringe? Weil es Stand heute keine geben wird. Es werden einige weitere Spielerjahrgänge ins Land ziehen, in denen es mit größter Wahrscheinlichkeit kein deutscher Spieler in die internationale Spitzenklasse schaffen wird. Auch wenn die Entwicklungskurven von Akteuren im Übergang von der Jugend zu den Erwachsenen mitunter nicht kalkulierbar sind und überraschende Produkte auswerfen, ist die Lücke, die in den Jahrgängen hinter Franziska klafft, groß – und sie wird derzeit stetig größer. Das zumindest, wenn man den Maßstab anlegt, auch weiterhin um olympische Medaillen wettzustreiten. Und den wird der DTTB anlegen.
Für die Aktiven der Rio-Delegation des DTTB sind solche Überlegungen natürlich vor allem erst mal eines: vollkommen egal. Was zählt, ist die Gegenwart. Und in der wird das Team von einem maximal fokussierten Ovtcharov angeführt, der einer ähnlich erfolgreichen Olympia-Teilnahme wie 2012 alles untergeordnet hat. Boll scheint nach einer alles andere als reibungslosen Olympia-Saison rechtzeitig zu deren Höhepunkt zu starker Form aufzulaufen. Er gehört streng genommen zwar nicht in den ganz eng gezogenen Kreis der Einzelmedaillenanwärter, in dem er sich etwa vor acht Jahren wiedergefunden hatte. Aber andererseits: Gibt es viele Spieler, denen man erheblich bessere Aussichten geben würde? Nein. Und Bastian Steger verkörpert die Konstanz und Solidität, die Bundestrainer Roßkopf in ihm wohl stärker gesehen hat als in Franziska. Deutschland scheint gerüstet für das Kräftemessen auf allerhöchstem Niveau. Ob das für eine Medaille ausreichen wird, vielleicht gar wieder für zwei, wird letztlich auch von vorab nicht kalkulierbaren Faktoren abhängen.
Hohen Standard festigen
Gleichwohl wird das deutsche Tischtennis-Team die leise Vorahnung begleiten, dass die goldenen Zeiten in gar nicht allzu ferner Zukunft ein wenig an Glanz verlieren könnten. In olympischen Disziplinen sind es eben die Olympiazyklen, die die großen Linien durch die Sportarten ziehen. Sie geben die langfristigen Impulse für die Trainings- und Wettkampfplanung vor. Und abgesehen von den bereits vollkommen durchkommerzialisierten Sportarten wie Fußball, Basketball oder Golf stellt olympisches Edelmetall die höchste Weihe dar, die es zu erreichen gilt. Nicht nur für die Aktiven, sondern auch für deren Spitzensportverbände. Gerade im hartnäckigen Wettstreit der Randsportarten hängt deren finanzielle Förderung auch maßgeblich von Erfolgen (und das meint: Medaillen) auf der olympischen Bühne ab.
Es geht in Rio de Janeiro für das deutsche Herren-Tischtennis also auch darum, seinen hohen und hart erarbeiteten Standard für die nahe Zukunft zu festigen – und damit die Weichen für die fernere Zukunft bestmöglich zu stellen. Da passt es doch gut ins Bild, dass der DTTB für diese Mission seine allerbesten Leute schicken kann. Wenn vielleicht auch zum letzten Mal bei Olympischen Spielen.
(Jan Lüke)
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