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Dietmars Blog: Schluss mit der ‚goldenen Ananas‘

Durch die Reform würde die EM-Quali auch für die Spitzenteams zum ernsthaften Wettkampf (©Stosik)

27.07.2015 - Bei der Europäischen Tischtennis-Union (ETTU) stehen die Vorbereitungen für die Veränderung von Teilen des EM-Regelwerkes kurz vor einem vielversprechenden Abschluss. Anders als bei zahlreichen Versuchen in der Vergangenheit verdienen die angestrebten Reformen dieses Mal ihren Namen tatsächlich. Unser Blogger Dietmar Kramer hat sich näher mit den Plänen der ETTU-Führung befasst.

Es tut sich etwas bei der ETTU. Nicht, dass der Europa-Verband bisher hauptsächlich durch Passivität geglänzt hätte, nein. Maßgebliche Impulse für das Tischtennis auf dem Kontinent (oder idealerweise darüber hinaus) allerdings waren in den vergangenen Jahren doch eher Mangelware, keinesfalls die Regel, auch wenn mitunter auch nur ein glückliches Händchen gefehlt haben mag. 

Umso bemerkenswerter sind die jüngst auf den Tisch gekommenen Vorschläge der ETTU-Führung für vergleichsweise einschneidende Veränderungen der Regeln für die EM-Qualifikation. Auf den ersten Blick verdient die beabsichtigte Reform – die Entscheidung fällt im Herbst auf dem ETTU-Kongress am Rande der Europameisterschaften im russischen Jekaterinenburg – tatsächlich diesen Namen: Denn bei einer Übernahme des Präsidiumsvorschlages würde aus der EM-Qualifikation erstmals in der 57-jährigen Geschichte der kontinentalen Titelkämpfe ein ernsthafter und auch durchlässiger Ausscheidungskampf um Plätze in der höchsten Mannschaftskategorie. Mehr noch: Das Papier steigert die Bedeutung von EM-Turnieren auch unterhalb der Medaillenrunde und eröffnet zugleich die Möglichkeit zu einer zeitgemäßeren Begrenzung der Teilnehmerzahlen bei künftigen Einzeleuropameisterschaften, indem eine Verzahnung der Mannschafts-Ergebnisse mit den Kontingenten für die Individual-Wettbewerbe stattfinden soll.

Einfaches System

Dabei ist der zur Abstimmung stehende Vorschlag lange Zeit schon sehr naheliegend gewesen: Für die Ermittlung der 15 Starter in der Champions Division bei einer Mannschafts-EM neben dem automatisch gesetzten Gastgeber werden mit den 29 (verbleibenden) besten Teams der vorherigen EM aus der erstklassigen Champions Division und zweitklassigen Challenge Division sowie dem Sieger der Standard Division zehn Dreier-Gruppen gebildet. Der Gruppensieger nach jeweils zwei Heim- und Auswärtsspielen pro Nation qualifiziert sich direkt für die Champions Division, die Gruppenletzten erhalten einen Platz in der Challenge Division. Die zehn Gruppenzweiten spielen in fünf Play-off-Duellen um die fünf noch zu vergebenden Champions-Division-Plätze, die Verlierer komplettieren darunter die Challenge Division.

Darüber hinaus würde der Entwurf auch einige der schon oft und in ihrer derzeitigen Bedeutung auch zu Recht kritisierten Platzierungsspiele bei EM-Turnieren aufwerten können – die Endplatzierung einer Mannschaft bei einer Team-EM soll nämlich künftig auch die Teilnehmerzahl einer Nation an der jeweils folgenden Individual-EM bestimmen. Dem vorgelegten Plan zufolge dürften die vier Top-Nationen ebenso wie der Gastgeber der Einzel-EM fünf Aktive und die Mannschaften auf den Rängen 5 bis 14 sowie 17 und 18 (die bisherigen Aufstiegsplätze zur Champions Division) vier Akteure melden. Für die Mannschaften auf den Rängen 15 und 16 (die bisherigen Champions-Division-Absteiger) reduziert sich das Kontingent auf drei Aktive und damit ebenso viele Spieler wie für die Nationen auf den Rängen 19 bis 30. Dahinter kann jede Nation noch zwei EM-Plätze besetzen.

Kurz: Durch das neue Konzept würde die EM-Qualifikation auch für Spitzenmannschaft zu einem ernsthaften Wettbewerb; die Zahl von Spielen um die „goldene Ananas“ sowohl in der Ausscheidung als auch beim EM-Turnier würden weitgehend reduziert; das angedachte System bietet Durchlässigkeit und damit auch drittklassigen Teams schon für die nächste EM - statt derzeit erst bei den übernächsten Titelkämpfen - zumindest theoretisch die Chance auf Gold; durch die Verknüpfung des EM-Ergebnisses einer Mannschaft mit der Zahl ihrer Teilnehmer bei der Individual-EM erfolgt eine Anhebung des Stellenwertes von bisher eher unbedeutenden Platzierungsspielen; die wünschenswerte Begrenzung der Teilnehmer an einer Einzel-EM erfolgt durch eine (wenn auch nicht die einzige) sportlich nachvollziehbare Regelung.

Abschaffung eines Etikettenschwindels

Zusammengefasst dokumentiert die bevorstehende Abschaffung des bisherigen Etikettenschwindels – die bisherige „Qualifikation“ bedeutete praktisch nicht mehr als die bloße Ausspielung von Setzungspositionen mit bestenfalls einem zumindest für Spitzenteams zu vernachlässigenden Erstrunden-Freilos als Bonus – auch das Ende eines zuletzt schon alarmierend wirkenden Anachronismus’: Endlich scheint die ETTU unter ihrer neuen Führung mit Präsident Ronald Kramer nach der jahrelangen Agonie unter seinem Vorgänger Stefano Bosi, als zuletzt kein erkennbarer Rhythmus für EM-Turniere mehr vorhanden war oder noch früher für die Champions League der Meister aus der einstigen Europapokal-Kernnation Deutschland kein Startrecht für die Königsklasse hatte, im modernen Spitzensport-Zeitalter angekommen. 

Unter dem Strich hat sich eine beim Fußball seit vielen Jahrzehnten bewährte, weil einfache und in anderen Tischtennis-Konkurrenzsportarten wie Handball, Basketball oder Volleyball auch schon lange geltende Erkenntnis durchgesetzt: Jeder Sport lebt auch in seiner professionellen Außendarstellung nicht zuletzt davon, dass praktisch beinahe jede Aktion, in jedem Fall aber jedes Spiel wenigstens mittelbar in einem größeren Zusammenhang greifbare Auswirkungen hat und dadurch eine ganz eigenständige Bedeutung besitzt – es muss um mehr gehen als eine „goldene Ananas“. Nur eine solche Konstellation bietet immerhin grundsätzlich und damit auch für den Tischtennis-Sport die Aussicht auf verbesserte Potenziale für Vermarktung, Medienpräsenz und Zuschauerinteresse.

Chancen auf mehreren Gebieten

Die von der ETTU-Arbeitsgruppe mit DTTB-Vizepräsidentin Heike Ahlert vorgelegten Anregungen lassen mindestens in mehrerlei Hinsicht Chancen für den Tischtennis-Sport erhoffen: Eine Team-EM rückt bereits lange Zeit und besonders auch regelmäßig vor Turnierbeginn in den Fokus der Öffentlichkeit, nationale Verbände können sich bei einigermaßen ausgeprägter Erfolgsorientierung für einen Platz in der Champions Division einen dauerhaften Verzicht auf ihre Spitzenakteure kaum noch leisten und doch gleichzeitig schon jüngere Aktive ans Topniveau heranführen, Auftritte von Nationalmannschaften außerhalb der großen Meisterschaften können aufgrund der voraussichtlich spielenden Stars auch wieder vor Ort echte Attraktionen für das Publikum in den Arenen sein – kurzum: Tischtennis kommt ins Gespräch.

Man darf sich mit einiger Berechtigung zwar sicherlich fragen, warum die ETTU so lange dafür benötigt hat (oder sich sogar gesträubt hat?), durch die Justierung einiger kleinerer Stellschrauben so wirksame Effekte erzielen zu wollen. Wenn nun aber ein derartig großer Wurf, ja sogar Coup zu gelingen und ein wichtiger Impuls gesetzt zu werden scheint, muss man dem Europa-Verband auch einmal gratulieren: Der beabsichtigte Qualifikations-Modus wäre ein wahrhaftiger Quantensprung.

(Dietmar Kramer)

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