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Jans Blog: Nach dem Titel ist vor dem Titel

Nach seinem WM-Titelgewinn dürfte Ma Long das Olympia-Ticket sicher haben (©Stosik)

25.05.2015 - Gerade erst ein paar Wochen ist es her, dass sich Ma Long in Suzhou seinen langersehnten Traum vom Weltmeistertitel erfüllt hat. Schon jetzt geht der Blick in den Lagern der Nationalmannschaften in Richtung Olympische Spiele 2016. Welche Bedeutung dieses Großereignis in der Tischtennis-Welt hat und welche Spieler für die deutsche und die chinesische Auswahl in Frage kommen könnten, beschreibt Jan Lüke in seinem Blog.

Die Uhr tickt: In 439 Tagen beginnen die Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro, Brasilien. Trotz oder gerade wegen der Vielzahl an Wettkämpfen im internationalen Tischtennis wird es im nächsten Sommer an der Copacabana um nicht weniger gehen als um: genau, den wichtigsten Titel im Welttischtennis. Die Spiele werfen dieser Tage weiter und kräftiger denn je ihre Schatten voraus – und das vor allem bei den Topnationen China und Deutschland. 

Das hat mit dem wohl zweitwichtigsten Titel im Welttischtennis zu tun: dem des Einzel-Weltmeisters. Denn das Ende der WM in Suzhou markierte auch den Anfang der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele. Nach der WM ist vor Olympia – sozusagen. Gerade für die absoluten Topspieler, die bei Großereignissen um die Medaillen spielen. Für die haben die Olympischen Spiele den wohl höchsten Stellenwert, wenngleich ein WM-Titel vielleicht sportlich höher zu bewerten sein mag.

Olympische Spiele ein 'sportlicher Leuchtturm'
Warum sind die Olympischen Spiele so wichtig und so wertvoll? Vor allem deshalb, weil sie nur alle vier Jahre sind. Logisch. Weil sie in der Trainingssteuerung der besten Athleten der Welt den größten, weil wichtigsten Zyklus vorgeben. Weil sie in Zeiten, in denen die Europameister, Weltmeister und alles andere fast jährlich ausgetauscht werden, in ihrer nur vierjährigen Wiederkehr einen sportlichen Leuchtturm darstellen. Auch die Besten einer Generation haben höchstens zweimal, dreimal oder vielleicht viermal die Chance, nach diesem Titel zu greifen. Und hier kommt im Tischtennis noch eine Besonderheit dazu: Viele der besten Spieler der Welt dürfen nicht einmal mitmachen. Die Startplätze pro Nation sind arg begrenzt – auf drei für die Mannschaft, gar nur zwei für die Individualwettbewerbe. 

Das ist nicht viel. Das kann zu Problemen führen. Und das führt zu Problemen. Mit Verlaub: zu Luxusproblemen. Wer mehr als drei Weltklasse-Spieler in seiner Nationalmannschaft hat, für den ist die Olympia-Nominierung die wohl schwierigste Entscheidung im Amt. Für zwei Teamchefs gilt das besonders: für Jörg Roßkopf und Liu Guoliang. Sie leiten mit dem deutschen und dem chinesischen die beiden besten Länderteams der Welt. Die WM hat nicht nur einen jüngsten Fingerzeig gegeben, wer sich wie große Chancen auf Rio machen darf, sondern auch den wohl wichtigsten. Denn sie war das letzte derart bedeutsame Turnier vor der Nominierung.

In Suzhou konnte vor allem Liu seine Topathleten ein letztes Mal unter dem Wettkampfdruck sehen, dem sie auch in Rio ausgesetzt sein werden. Anders als bei einer WM mit sieben Startern, bei dem ein Ausscheiden eines Topstars einfach durch einen anderen aufgefangen wird, muss bei den Olympischen Spielen jeder Schuss ein Treffer sein. Heißt: Die beiden Spieler, die für China in den Einzelwettbewerb gehen, sind in der Pflicht, zwei Medaillen zu gewinnen – eine goldene und eine silberne. Also steht auch Liu in der Pflicht, exakt die beiden Athleten ausfindig zu machen, die mit dieser Verantwortung am besten umgehen können.

'Big Four' haben Konkurrenz bekommen
Und wirklich könnte die WM die Hierarchie im chinesischen Tischtennis in Teilen neu geordnet haben. Ma Long hat dort seinen einzigen Makel abgelegt: Er hat einen Titel mit weltweitem Prestige gewonnen und bewiesen, dass er dafür im Kopf stark genug ist. Genau dieser Makel hatte Ma wohl seinen Startplatz bei den Spielen in London gekostet. Wenngleich er sich selbst dieser Tage zurückhaltend äußerte ob seiner Olympia-Chancen: Ma wird in Rio an den Start gehen. Selbst wenn man hinter Ma nur eine kleine Lücke zur Konkurrenz im eigenen Team sieht, wird es besonders interessant hinter dem neuen Weltmeister und Weltranglistenersten. Dort hat Dauersieger Zhang Jike, der sich derzeit wie schon in Suzhou mit Verletzungssorgen herumplagen und ohnehin nicht als Liebling von Liu gelten soll, zwar den Vorteil, dass er als Titelverteidiger und zweifacher Einzel-Weltmeister noch immer als starker Wettkämpfer gilt. Doch Fan Zhendong und Xu Xin sitzen ihm ohnehin schon länger im Nacken. Und ein Problem haben die ‚big four‘ der Chinesen seit Suzhou auch noch: dass sie gar nicht mehr zu viert sind. Fang Bo, der eigentlich nur einen der Perspektivplätze ergattert hat, hat seine Chance genutzt. Er hat mit seinen Siegen über Xu und Zhang sowie seinem Finaleinzug nicht nur das weltweite Publikum beeindruckt – sondern auch Liu. Er hat sich im internen Team-Ranking nach oben geschossen. Die Frage ist nur: auf welche Position? Denn neben dem zweiten Starter im Einzel geht es eben auch um den dritten im Team, der im Falle des chinesischen Teams beinahe ein garantiertes olympisches Gold ist. Dort könnte Xu als exzellenter Doppelspieler punkten. Oder Youngster Fan an zukünftige Herausforderungen herangeführt werden. So oder so: Wieder werden Top-Ten-Spieler und Weltmeister zuhause bleiben.

Wer fährt als deutsche Nummer drei mit?
Zwar mit einer anderen Qualität stellen sich diese Probleme auch in Deutschland. Immerhin: Die beiden Einzelstarter sollten, Stand heute und – dreimal auf Holz geklopft – ohne Verletzungen, feststehen: Dimitrij Ovtcharov und Timo Boll. Im deutschen Kader geht es deshalb eher um die Besetzung des Postens hinter dem Top-Duo. Da scheint es auf den ersten Blick gleich mehrere Kandidaten zu geben: Patrick Baum, Patrick Franziska, Bastian Steger, Steffen Mengel oder Ruwen Filus – allesamt Top-50-Spieler. Baum hat seinen lange unstrittigen Platz als Nummer drei im Team räumen müssen. Franziska vertrat Baum in dessen Wettkampfpause so glänzend, dass er mindestens gleichauf zu sein scheint mit Baum. Bastian Steger war langjährig fester Bestandteil des Teams, Mengel hat sich zum China-Schreck entwickelt. Und Filus? Hätte derzeit wohl die Form auf seiner Seite. Doch ganz so knapp wird die Entscheidung für Startplatz drei wohl doch nicht. Franziska ist spätestens seit diesem Jahr klar in der Vorlage. Nicht allein deshalb, weil sein Viertelfinal-Einzug in Suzhou die größte Überraschung des Turniers war. Den Grundstein dafür legte er im März in Bremen – mit dem Doppel-Titel an der Seite von Boll bei den German Open. Denn Roßkopf muss, noch einmal: Stand heute, für den Team-Wettbewerb nicht nur einen guten Einzelspieler finden, sondern einen Doppelpartner für Boll. Und der gewann in Bremen gemeinsam mit Franziska in überragender Manier das Turnier. Dennoch wird der Bundestrainer froh sein, dass er sich bei dieser schwerwiegenden Entscheidung noch Zeit lassen kann. Ja, sogar sollte und muss.

(Jan Lüke)

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