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Dietmars Blog: Geschärftes Profil, aber Zeitbombe tickt

Gute Stimmung auf der Tribüne und im ETTU-Kongress: Der Sport ist in Portugal nach vorne gekommen (©Stosik)

29.09.2014 - Bei der Team-EM in Lissabon ist neben den sportlich teilweise historischen Ereignissen auch Politik gemacht worden. Gut zwölf Monate nach dem Führungswechsel bei der ETTU wehte in Portugals Hauptstadt nach Jahren des quälenden Zauderns und Stillstands ein erfreulich frischer Wind durch den Kongress des Europa-Verbandes. Unser Blogger Dietmar Kramer betrachtet die wichtigsten Beschlüsse etwas ausführlicher - und sieht dabei auch vergebene Chancen.

Die Mannschafts-Europameisterschaft im Land des Champions Portugal hat neben dem Premieren-Titel für die Iberer auch auf dem sportpolitischen Parkett für Neuigkeiten gesorgt. Endlich beschloss der ETTU-Kongress in Lissabon auf Vorschlag seiner neuen und spürbar tatkräftigen Verbandsführung nach quälend langen Jahren des Zauderns endlich eine verbindliche Reform des EM-Rhythmus und kassierte kurzentschlossen auch das überflüssige, weil letztlich für das EM-Turnier als schädlich erwiesene Nachnominierungsverbot wieder ein. Erstmals seit einigen, gefühlt beinahe ewigen Jahren brachte die Vollversammlung der kontinentalen Nationalverbände greifbare und sinnvolle Fortschritte. Von den getroffenen Entscheidungen erscheint zumindest auf den ersten Blick kein Beschluss - anders als in der Vergangenheit - fragwürdig oder gar offenkundig kontraproduktiv. In Lissabon ist dem vor Jahresfrist ins Präsidentenamt gewählten Niederländer Ronald Kramer (nicht verwandt mit dem Autor) die Schärfung seines Profils und der Konturen seiner Crew mit DTTB-Vizepräsidentin Heike Ahlert (weitgehend) erfolgreich gelungen.

 

EM-Splitting löst viele Probleme

 

Besonders die nunmehr endgültige Festlegung auf eine Trennung von Mannschafts- und Individual-Europameisterschaften ab 2016 ist als Durchbruch zu bewerten. So sehr sich dieser Schritt schon spätestens seit der Festlegung des Weltverbandes auf eine Teilung der Team- und Einzelwettbewerbe vor elf Jahren geradezu aufgedrängt hatte, so sehr hatte sich Kramers Vorgänger Stefano Bosi (Italien) dem geradezu logischen Folgeschritt verweigert. Zum Schaden des Sports: Der EM-Rhythmus war insbesondere in der jüngeren Vergangenheit keiner mehr, das Meisterschafts-Programm richtete sich offenkundig nur noch an den Möglichkeiten potenzieller Ausrichter aus und nicht mehr umgekehrt, und in der Folge ging nicht zuletzt auch in der Öffentlichkeit außerhalb der Szene der Überblick völlig verloren. 

 

Diese Zeiten gehören nunmehr bald der Vergangenheit an: Nach der letzten „kompletten“ EM 2015 in Ekaterinenburg – hierzu später mehr – finden im jährlichen Wechsel und – besonders wichtig – entgegen dem WM-Rhythmus getrennte EM-Championate statt – beginnend 2016 mit der Einzel-EM. Es ist damit - eigentlich schon immer naheliegend - allen Interessen gedient: Anhänger des Mannschaftssports Tischtennis und des Einzelsports Tischtennis kommen auf dem Alten Kontinent jedes Jahr gleichermaßen auf ihre Kosten, und die überbordenden Dimensionen von EM-Turnieren werden zugunsten kompakter Formate eingedämmt. Es ist ein großer Verdienst von Kramer und seiner Mannschaft, die traditionalistischen Verfechter von „großen“ Europameisterschaften von der Attraktivität, besonders aber eben auch von der zeitgemäßen Alternativlosigkeit eines „Euro-Splittings“ überzeugt zu haben.

 

Nachnominierungs-Verbot war nicht einzusehen

 

Geradezu erstaunliche Flexibilität – gemessen an den früher verkrusteten Strukturen in der ETTU – legte der Kongress bei der weitgehenden Aufhebung des kurz vor EM-Beginn besonders auch in Deutschland auf Unverständnis gestoßenen Nachnominierungsverbotes für eine EM an den Tag. Nachträglich muss man schon vermuten, dass die einstigen Befürworter einer solchen Regelung dem Sport wohl schon recht weit entrückt gewesen sein müssen, denn es war mitnichten einzusehen, warum kurzfristige und absolut nicht vorhersehbare Ausfälle, wie sie beispielsweise das deutsche Herren-Team (Patrick Baum und teilweise Dimitrij Ovtcharov) oder auch Dänemark (Michael Maze) zu verkraften hatten, nicht durch die Nachnominierung von Ersatzspielern aufgefangen werden können sollten. Rein sportlich hätte vermutlich ein immerhin zweimaliger EM-Bronzemedaillengewinner Bastian Steger dem Turnier in Lissabon mehr Qualität verleihen können als „ein halber Spieler“ (Ovtcharov nach dem Finale über Ovtcharov). Selbst im inzwischen ja auch umfassend reglementierten Fußball sind für den Fall „triftiger Gründe“ kurzfristige Änderungen möglich.

 

EM 2015 in Russland eine „tickende Zeitbombe“

 

Einige Kühe also hat die ETTU in Lissabon vom Eis gebracht. Allerdings ist auf dem Kongress eine Chance zur Korrektur oder wenigstens der Relativierung eines Beschlusses von der Jugend-EM im vergangenen Sommer in Italien verpasst worden, der Europas Tischtennis bald schon auf die Füße fallen könnte: die Vergabe der EM 2015 nach Ekaterinenburg. Inmitten der eskalierenden Ukraine-Krise hält die ETTU kommentarlos an Russland als Gastgeber seiner nächsten Schaufenster-Veranstaltung fest und setzt sich sehenden Auges auf eine „tickende Zeitbombe“, nachdem schon der Zuschlag angesichts mehrerer Bewerber zumindest als umstritten angesehen werden darf.  Anders nämlich als beispielsweise im Fußball (WM-Endrunde 2018) oder in der Formel 1 (Mitte Oktober) erfolgte die Vergabe erst nach Russlands Annexion der Krim und der militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine. 

 

Nicht nur weil erst Mitte September Präsident Thomas Bach für das Internationale Olympische Komitee (IOC) klarstellte, dass sich der Sport eine Trennung von der Politik schlichtweg „nicht mehr leisten kann“, dürfte es der ETTU schwerfallen, Kritik wie von Transparency International an einem „problematischen und falschen Signal“  zu entkräften. Verbänden wie der ETTU müsste nämlich klar sein, dass Staaten mit stark begrenztem Verständnis von Demokratie und Schutz der Menschenrechte die Rolle als Gastgeber von bedeutenden Wettbewerben wie auch einer Tischtennis-EM besonders auch zur Aufpolierung ihres miserablen Images missbrauchen werden.

 

Zweifelsohne hätte zwar der Fußball-Weltverband hinsichtlich seiner WM in Russland mehr Möglichkeiten zur Ausübung von Druck, doch sollte sich Tischtennis auch nicht ohne Not, sprich unnötig klein halten: Schon eine Resolution zu dieser Thematik oder auch nur eine Debatte darüber hätte in Lissabon ein kraftvolles Zeichen gesetzt, das Profil der ETTU nachhaltig geschärft und dem internationalen Ansehen des Tischtennis sicherlich nicht geschadet. Das Gegenteil ist zu vermuten, zumal die Entwicklung der internationalen Stellung des kommenden EM-Ausrichterlandes in den nächsten Monaten kaum einzuschätzen ist.

 

Lissabon ein Fortschritt für Tischtennis

 

Möglicherweise aber und auch wahrscheinlich ist die Weltpolitik nicht das Spielfeld der ETTU. Ungeachtet der versäumten Russland-Diskussion ist Lissabon als Erfolg für das Tischtennis zu werten. Der Sport ist in Portugal nach vorne gekommen.

 

(Dietmar Kramer)

 

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