Trainingstipp

Mentaltipp: Wenn David auf Goliath trifft...

Wenn man gegen Stärkere antritt, muss man seine 'Steinschleuder' finden (©Thomas)

20.08.2019 - Auf allen Ebenen des Tischtennissports kommt es immer wieder zu Duellen zwischen einem vermeintlich Übermächtigen und einem auf dem Papier Schwächeren. In unserem Mentaltipp zeigt der Sportpsychologe und Berater der deutschen TT-Nationalmannschaft, Dr. Christian Zepp, warum sich der haushohe Favorit nicht zu sicher fühlen darf und wie es der Underdog schafft, sich nicht von vorne herein aufzugeben. Die wichtigsten Stichwörter sind Selbstvertrauen und Demut.

präsentiert vom Verband Deutscher Tischtennistrainer (VDTT)

Viele Spieler berichten davon, dass sie in einer von zwei Situationen häufig Schwierigkeiten haben, ihre Spiele zu gewinnen: Entweder, wenn sie gegen jemanden spielen müssen, der deutlich besser oder der deutlich schlechter ist als sie selbst. Die Ursachen für beide Situationen sind in vielen Fällen ähnlich. Auf der einen Seite machen sich Spieler, die gegen schwächere Gegner antreten, häufig zu viel Druck (z.B. „Gegen den Gegner muss ich auf jeden Fall gewinnen, sonst blamiere ich mich.“) oder unterschätzen den schwächeren Gegner („Gegen den Gegner gewinne ich auch mit 75%.“). Auf der anderen Seite geben sich Spieler, die gegen stärkere Gegner antreten müssen, manchmal vor dem Spiel schon auf (z.B. „Gegen den Gegner habe ich doch sowieso keine Chance.“) oder beschäftigen sich hauptsächlich mit den eigenen Schwächen (z.B. „Meine Vorhand ist viel zu schlecht, um gegen den Gegner mithalten zu können.“). 

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Aus der praktischen Arbeit mit Spielern heraus lassen sich in vielen Situationen folgende vier Ursachen für eine schlechte Leistung gegen schlechtere oder bessere Spieler zusammenfassen: Während im Spiel gegen vermeintlich schlechtere Gegner häufig ein hoher (innerer) Druck, gut spielen zu müssen, und manchmal auch ein zu hoher Stolz bezogen auf die eigenen Fähigkeiten schlechte Leistungen nach sich ziehen, sind es bei Spielen gegen vermeintlich bessere Gegner häufig ein zu geringes Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Auseinandersetzung mit den eigenen Schwächen und den gegnerischen Stärken. Eine Frage, die sich in der Praxis häufig stellt, ist, wie es gelingen kann, die richtige Balance zwischen gesundem Selbstvertrauen in sich selbst und die eigenen Stärken auf der einen, und die Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen auf der anderen Seite zu erreichen. Was ist eigentlich ein gesundes Selbstvertrauen und an welcher Stelle wird aus Selbstvertrauen Hochmut und ein zu großes Ego?

Die Bibel liefert das beste Beispiel

Es gibt eine historische Erzählung aus einem gänzlich anderen Kontext, von der viele Menschen lernen können, wie Demut und Selbstvertrauen Hand in Hand gehen und welche Konsequenzen Hochmut und Stolz haben können. Im Jahr 1000 vor Christus befinden sich die Israeliten und Philister in einem schrecklichen Krieg im Tale Ela. Es war Goliath, der sich den Israeliten gegenüber stellte und ihnen anbot, dem Krieg ein Ende zu bereiten. Sein Angebot war einfach: Wenn es einen Mann aus dem Volk der Israeliten gäbe, der ihn schlagen konnte, wäre der Krieg vorüber und die Philister würden sich den Israeliten beugen. Wenn er allerdings den israelischen Krieger besiegen würde, wären die Israeliten gezwungen, sich Goliath und den Philistern zu unterwerfen. 

Für 40 Tage wiederholte Goliath seine Aussagen zweimal täglich vor den Truppen und nicht ein einziger Soldat trat vor – nicht einmal der König Israels. Die Israeliten lebten in Angst, denn sie glaubten nicht daran, gegen den vermeintlich übermächtigen Goliath gewinnen zu können. Den Angaben zufolge war Goliath ein Riese von etwa 2,90m Größe und unglaublicher Stärke. Niemand aus den Reihen der Israeliten trat vor, um Goliath entgegenzutreten, da sie von Angst erfüllt waren. Sie hatten sich bereits aufgegeben, ohne überhaupt gekämpft zu haben. Niemand war mutig genug, sich Goliath zu stellen – und Mut ist das, was Menschen in vielen Situationen brauchen, wenn sie nicht wissen, ob sie die Fähigkeit haben, gegen einen Gegner zu bestehen oder nicht. 

Eines Tages kommt der Hirtenjunge David, der Jüngste von vier Söhnen, und bringt seinen Brüdern, die gemeinsam im Heer der Israeliten dienen, etwas zu essen. Er fragt seine Brüder, wieso niemand etwas gegen Goliath unternimmt, und wird ausgelacht. Besonders als er sagt, dass er es mit Goliath aufnehmen will. Niemand glaubt ihm, dass er es schaffen kann. Er überzeugt seine Brüder, die Soldaten und König Saul davon, dass er die Fähigkeiten hat, Goliath zu besiegen. Als seine Brüder ihm eine Rüstung anlegen und das Schwert umbinden, geht er hiermit ein paar Schritte und legt die Rüstung wieder ab. Er erkennt, dass er nicht geübt ist im Umgang mit einem Schwert und auch nicht im Tragen einer schweren Rüstung. Anstatt dessen ergreift er seine Steinschleuder, mit der er Tag für Tag wilde Tiere verjagt. Er ist demütig genug, seine eigenen Grenzen anzuerkennen, und konzentriert sich auf seine eigenen Stärken. Er weiß, was er kann, und er hat den Mut, sich mit seinen Fähigkeiten einem vermeintlich stärkeren Gegner zu stellen. Als er ohne Rüstung und Schwert auf das Feld zwischen den beiden Truppen tritt und auf Goliath und die Philister zugeht, beginnt Goliath zu lachen. Goliath kann nur einen kleinen, schwachen Jungen sehen, der keine Bedrohung für ihn darstellt. Hier zeigt sich, wie sich das eigene Ego und der Stolz auf die eigenen Fähigkeiten auf das Verhalten auswirken können. Goliath nimmt sich als unverwundbar wahr – besonders, da ihm nur ein kleiner Hirtenjunge gegenübersteht. Der Ausgang der Geschichte ist bekannt. Während David auf Goliath zurennt trifft David Goliath mit einem Stein aus seiner Steinschleuder zwischen die Augen und siegt über ihn. 

Aufs wahre Leben anwendbar

Der Grund, warum die Geschichte von David und Goliath all die Jahrtausende überlebt, ist nicht nur, weil der Außenseiter gegen den Favoriten gewinnt. Sie überlebt, weil sie sich mit den Einstellungen und Verhaltensweisen beschäftigt, die für uns alle – im Sport aber auch in anderen Lebensbereichen – immer wieder wichtig sind. Woher kommt mein Selbstvertrauen? Was bedeutet es für mich, mich mit meinen Schwächen auseinanderzusetzen und diese anzuerkennen? Wie kann ich es schaffen, mein eigenes Ego im Zaum zu halten und mich nicht selbst zu überschätzen? Ein paar mögliche Antworten finden sich vielleicht in diesem Text. Wir benötigen Selbstvertrauen oder wir sind schwach und ängstlich. Wir müssen vorsichtig mit unserem Ego sein, da es uns verletzlich machen kann. Wir benötigen Demut, die uns leitet und begleitet. Diese drei Variablen stehen häufig in einer dynamischen Beziehung zueinander und verhelfen uns zu Erfolg und Ehre, solange sie ausgeglichen sind, und zu Niederlagen und Schwierigkeiten, wenn nicht. 

Was bedeutet dies nun für die Arbeit mit Spielern und wie lassen sich diese Informationen und Variablen gewinnbringend in die Praxis umsetzen? Unabhängig davon, ob ein Spieler gegen einen vermeintlich stärkeren oder schwächeren Gegner antreten muss, gibt es einige Punkte, die jeder verfolgen und berücksichtigen kann. Ein zu hoher Druck hat häufig seine Ursache darin, dass der Spieler schon mit den Gedanken beim Ausgang des Spiels ist. Viel wichtiger ist anstatt dessen, die Konzentration ausschließlich auf den aktuellen Moment zu lenken und auf das, was jetzt gerade wichtig ist (zum Mentaltipp "Routinen und Rituale"). Hier kann man zusätzlich individuelle Handlungsziele vor dem Spiel definieren, auf die sich der Spieler konzentrieren will (z.B. tief stehen, schnelle Beinarbeit, kraftvolle Rückhand). Weiterhin ist es wichtig und für viele Spieler hilfreich, sich mit den eigenen Stärken vor dem Spiel auseinanderzusetzen. In Anlehnung an das Beispiel von David gegen Goliath kann man sich die Frage stellen: „Was ist meine Steinschleuder?“ Sobald ein Spieler beginnt, sich mit den eigenen Stärken zu beschäftigen, hat er Lösungen im Kopf, wie er in bestimmten Situationen reagieren kann, und beeinflusst damit sein Selbstvertrauen positiv. Gleichzeitig ist es aber auch die Aufgabe des Spielers, die eigenen Grenzen zu kennen und anzuerkennen. Ein Spieler muss wissen, was er kann und was er nicht kann. Es ist absolut in Ordnung, nicht alles zu können. Kein Spieler der Welt kann das. „Wo sind meine Grenzen und wie gehe ich mit diesen Grenzen (im Spiel) um?“ – dies ist eine Frage, die ich häufig mit Spielern bespreche. Hierbei handelt es sich dann um die Demut, anzuerkennen, dass man nicht alles kann – aber dennoch die Fähigkeit hat, erfolgreich aus dem Spiel herauszukommen. 

Mit eigener Steinschleuder hat man eine Chance

Stellen wir uns einen Spieler vor, der in einem Match gegen einen anderen sehr guten Spieler mit seiner eigenen Vorhand keine Chance gegen die überragende gegnerische Rückhand hat. Wenn er in einer solchen Situation die eigene Grenze anerkennt und sich dann auf die eigene Stärke - die eigene Steinschleuder – mit seiner eigenen starken Rückhand besinnt und diese einsetzt, hat auch er eine Chance, dieses Spiel zu gewinnen. Es geht in vielen Fällen einzig und allein darum, die eigenen Grenzen demütig zu akzeptieren und die eigenen Stärken so überzeugend und mutig wie möglich einzusetzen – unabhängig davon, ob es ein Spiel gegen einen vermeintlich stärkeren oder schwächeren Gegner ist. In vielen Fällen verliert man nämlich nicht gegen den Gegner – sondern gegen sich selbst.

Wenn Selbstvertrauen bedeutet, sich seinen eigenen Stärken bewusst zu sein, dann bedeutet, die eigenen Grenzen und Schwächen anzuerkennen, demütig zu sein. Wir brauchen beides, wenn wir gegen andere Menschen antreten. 


Auch wenn im Text ausschließlich die männliche Form verwendet worden ist, ist immer auch die weibliche Form gemeint. Quellen und Literatur zum Text können vom Autor bezogen werden.

Zum Autor: 
Dr. Christian Zepp ist Sportpsychologe und begleitet Topsportler verschiedener Disziplinen. Unter anderem ist er auch als sportpsychologischer Experte für den DTTB tätig, arbeitet mit Deutschlands Nationalspielern und unterstützt sie auf internationalen Turnieren. Der Diplom-Sportwissenschaftler ist zudem Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln. Weitere Infos und Angebote finden Sie auf seiner Webseite.

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