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Kilians Blog: Gründe für Schwedens verdiente WM-Erfolge

Im Herren-Doppel gelang Kristian Karlsson und Mattias Falck der ganz große Wurf (©WTT)

06.12.2021 - Bei der Individual-WM in Houston war es nicht nur Timo Boll, der als ältester Einzel-Medaillenträger der Geschichte herausstach, sondern vor allem auch die Schweden Truls Moregardh, Mattias Falck und Kristian Karlsson. Moregardh musste sich erst im Einzel-Finale Fan Zhendong geschlagen geben (0:4), Falck und Karlsson wiederum gelang mit dem Titelgewinn im Herren-Doppel – u. a. nach Erfolgen gegen zwei chinesische Duos – der ganz große Wurf. In seinem Blog nimmt Kilian Ort die herausragenden WM-Erfolge der Schweden unter die Lupe.

Anlässlich der WM 2021 in Houston gab es seitens der ITTF mal wieder eine Neuerung. Die Qualifikation fiel komplett weg, was zur Folge hatte, dass Tischtennis-Enthusiasten in diesem Jahr auf Partien wie zwischen der jungen Dame aus Mauritius und ihrer erfahrenen Kontrahentin aus Kambodscha verzichten mussten. Für den Ausrichter stellte dies sicherlich eine Erleichterung dar, da die Länge des Events verkürzt wurde und man sich um weniger Athleten kümmern musste. In der Ausschreibung steht zudem, dass man an der WM nur teilnehmen darf, wenn man unter den besten 256 Spielern der Welt zu finden ist. Jetzt denkt man sich, dass das doch keine große Hürde sein sollte. Meine Teamkollegen Filip Zeljko und Maksim Grebnev – der eine wurde vor einem guten Monat immerhin Dritter beim Contender-Turnier in Tunis und der andere war vor zwei Monaten eine der großen Überraschungen der Mannschafts-EM – standen aber zum notwendigen Zeitpunkt hinter dieser Marke und konnten somit nicht am Einzel-Turnier teilnehmen, obwohl sie von ihren nationalen Verbänden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nominiert worden wären.  

Falcks und Karlssons Doppel-Triumph hoch verdient
Zumindest im Doppel durfte Maksim gemeinsam mit seinem russischen Landsmann Lev Katsman zum Schläger greifen und traf dabei bereits in der zweiten Runde auf das spätere Weltmeisterdoppel Karlsson/Falck. Bei der EM in Warschau siegten noch die beiden Jungspunde, diesmal gestatteten ihnen die beiden Schweden nicht mal einen Satzgewinn. Allgemein muss man sagen, dass der Titel für die beiden Skandinavier hart erkämpft – und wenn man sich vor Augen führt, wer da alles aus dem Weg geräumt werden musste – hoch verdient war. Unter anderem rangen sie neben den amtierenden Doppel-Europameistern Katsman/Grebnev beide koreanischen sowie beide chinesischen Doppel nieder und schafften so das Kunststück, nach genau 30 Jahren den Doppel-Weltmeistertitel wieder nach Schweden zu holen. 1991 gelang dies – als bisher letztem europäischem Duo – ihren beiden Landsmännern Peter Karlsson und Thomas von Scheele.

Besonders gut funktionierte bei den neuen Weltmeistern das Kurz-kurz-Spiel, das im Doppel vielleicht von noch höherer Bedeutung als im Einzel ist. Dazu kommt, dass die kurz abgelegten wie auch die lang aggressiv angespielten Schupfbälle von Mattias Falck aufgrund seines Noppenbelags ‚eklig‘ auf die Gegner zukommen. Da es im Männerbereich äußerst wenige Spieler – besonders auf Weltklasseniveau – gibt, die kurze Noppen auf der Vorhand spielen, haben viele Kontrahenten nicht nur mit den offensichtlich unangenehmen Schüssen des Werderaners, sondern auch mit den unspektakulären Kleinigkeiten über dem Tisch erkennbare Probleme. Sobald jemand auf Falcks Bälle nicht optimal reagiert, ist Kristian Karlsson aufgrund seiner enormen Power auch jederzeit in der Lage, die Unzulänglichkeiten der Widersacher mit einem festen Topspin zu bestrafen. Hinzu kommt sicherlich noch, dass sich die beiden im Laufe des Turniers in einen Flow gespielt haben, den sie sich aber auch redlich erarbeitet haben. Wenn man darüber hinaus gar befreundet ist, fällt einem nicht nur die Kommunikation in der Box, sondern auch die Kommunikation an der Bar leichter.

Moregardh mit starken Nerven und kreativem Spiel zur Vize-Weltmeisterschaft
Selbstverständlich gab es aber auch noch ein Einzelturnier, das nicht zu kurz kommen soll. Bevor die ersten Zähltafeln umgeblättert werden konnten, fand standesgemäß die Auslosung statt. Auch aufgrund der Abstinenz des Weltranglistenzweiten Ma Long und des Weltranglistendritten Xu Xin kam es ähnlich wie 2019 zu einer Konstellation, die dem einen oder anderen Athleten ungeahnte Möglichkeiten eröffnete. Mit Zhou Qihao befand sich nur ein Mann aus dem Reich der Mitte in der unteren Hälfte des Tableaus. Als dieser in der zweiten Runde von einem starken Timo Boll eliminiert wurde und spätestens als Tomokazu Harimoto sowie Lin Yun-Ju früh die Segel streichen mussten, witterte wohl nahezu jeder seine Medaillenchance, der in der zweiten Hälfte des Turnierbaums die ersten Runden überstanden hatte. Dass am Ende Truls Moregardh derjenige sein würde, der im Finale stand, überraschte selbstverständlich auch mich. Siege über Chuang Chih-Yuan, Patrick Franziska, Lim Jonghoon, Quadri Aruna und Timo Boll – und selbst wenn der nur mit der rechten Hand spielen könnte – sind höchst beeindruckend.

Auffällig ist dabei, dass Moregardh viele enge Spiele gewann und auch wenn man sich die letzten Wochen vor der WM anschaut, erkennt man, dass der 19-Jährige viele umkämpfte Partien zu seinen Gunsten entscheiden konnte – eine 100%-Siegquote im Entscheidungssatz hat natürlich niemand. Ohne dass Glücksgöttin Fortuna an der einen oder anderen Stelle die Hand über den jungen Schweden gehalten hätte, wäre eine solche Sensation gewiss nicht möglich gewesen. Doch würde hier wohl kaum jemand wagen, von einem mental schwachen Spieler zu sprechen. Im Kopf des Koreaners Lim Jonghoon hat er sich nach der Achtelfinalpartie sicherlich verewigt. Mehr oder weniger chancenlos lag Moregardh mit 0:3 Sätzen gegen einen Lim, der aus allen Lagen feuerte und aus allen Lagen traf, zurück. Mit vielen unorthodoxen Bällen wie abgestochenen Blockbällen oder „Schnitzler“ beim Rückschlag sowie einer Körpersprache, für die so mancher das Wort „frech“ benutzen würde, gelang es dem jetzigen Vizeweltmeister, die Partie noch zu drehen. Wie man am Ende das Spiel gewinnt, ist sekundär. Hauptsache, man steht am nächsten Tag wieder in der Box. Und wenn jemand sagt, dass man seinen Schläger nicht werfen soll, kann ich demjenigen zustimmen, muss aber auch fragen, wer das selbst noch nie gemacht hat. Dass ein solcher Turnaround auch nur möglich war, weil sein zu Beginn so starker koreanischer Kontrahent auf die komischen Bälle teilweise reagierte, als hätte er zum ersten Mal einen Schläger in der Hand, ist selbstredend. Dennoch wird dieses Match wohl auch in ein paar Jahren noch herausgekramt, um aufzuzeigen, wie eine solche Taktikumstellung den Gegner komplett aus dem eigenen Rhythmus bringen kann.

Tischtennisfans fällt dabei sicherlich noch das WM-Viertelfinale 2005 zwischen Hao Shuai und Michael Maze ein, in der sich der Däne aufgrund seiner herausragenden Ballonabwehr durchsetzen konnte. Solch kreative Fähigkeiten hat nicht jeder, weshalb man den Athleten, die sie haben, in der Regel gerne zuschaut. Wenn man sich Moregardhs Spielsystem genauer anschaut, registriert man, dass er oft winzige Details bei der eigenen Aufschlagposition, der Platzierung im Aufschlag-Rückschlag-Bereich oder auch beim eigenen Topspin verändert. Am auffälligsten ist jedoch sein Rückhand-Pressblock, den man in seiner konsequenten Ausführung eher den 90er-Jahren zuordnen würde. Gerne vergisst man bei alledem schnell, dass er hauptsächlich mit seinem starken Vorhandtopspin sein Geld verdient. 

Källberg der nächste?
Ähnlich wie 2019, als beispielsweise An Jaehyun für Furore sorgte, konnte ein Spieler, der in der eigenen Nation eventuell nicht zu den Top 2 zählt, gehörig auf sich aufmerksam machen. Nun erreichte bei den letzten beiden Ausgaben jeweils ein Schwede das Einzelfinale und es ist nicht auszuschließen, dass Anton Källberg das auch noch gelingen könnte. Mutmaßlich wird sich der 24-jährige Borusse ähnlich wie beispielsweise sein Vereinskollege Dang Qiu beim Blick auf die eigene Auslosung verärgert ins eigene Hinterteil gebissen haben. „A bisserl Glück braucht halt a jeder“, würde der Bayer dazu sagen.

Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass es mir Spaß gemacht hat, einen so heißen Timo Boll spielen zu sehen, dass Fan Zhendong völlig verdient Einzelweltmeister geworden ist und dass es merkwürdig ist, warum unser Weltverband einen Meldeschluss angibt, wenn China und die USA einen Tag vor Turnierbeginn noch zwei gemischte Mixed-Paarungen aus dem Boden stampfen dürfen. #diplomacy

Ich habe mich in meinen Zeilen ausschließlich mit den männlichen Wettbewerben befasst, da es für den weiblichen Part sicherlich Expertinnen und Experten gibt, die fundiertere Analysen abgeben können, als ich dazu in der Lage bin.

2023 findet die nächste Einzel-WM zum erst zweiten Mal überhaupt auf dem afrikanischen Kontinent – genauer gesagt – in Durban statt. Ich wünsche meinen Teamkollegen Filip Zeljko und Maksim Grebnev, dass sie in der südafrikanischen Küstenstadt dann auch voll mit von der Partie sein werden und für die eine oder andere Überraschung sorgen können. 

(Kilian Ort)

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