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Kilians Blog: Weltrangliste verfehlt ihren Zweck

Mit der 'neuen' Weltrangliste kann sich Kilian Ort nicht anfreunden (©ITTF)

16.11.2020 - Mit dem aktuell in China laufenden Re-Start des internationalen Tischtennissports kommt in diesem Monats auch wieder Bewegung in die Weltrangliste. Diese war im April wegen der coronabedingten Wettkampfpause eingefroren worden. Kilian Ort ist nicht der einzige Athlet, dem das Ranking seit der Reform Anfang 2018 ein Dorn im Auge ist. In seinem Blog legt er dar, welche Macken das System hat und wer die Profiteure und wer die Leidtragenden sind.

„Changes for a better future for all“. Fast drei Jahre ist es mittlerweile her, dass die ITTF erstmals das neue Punktevergabesystem zur Berechnung der Weltrangliste angewendet hat. Die ersten großen Profiteure dieser Reform kamen aus Deutschland. Nachdem sich Dimitrij Ovtcharov im Januar und Februar 2018 den Platz an der Sonne ergatterte, stieß ihn sein Landsmann Timo Boll im darauffolgenden März vom Thron und kürte sich mit fast 37 Jahren zur ältesten Nummer eins der Welt. Obwohl der Odenwälder zum damaligen Zeitpunkt auf seiner Facebook-Seite schrieb, dass er „eine gewisse Freude nicht verhehlen“ wolle, kritisierte er den Weltverband für dessen Neuerung. Warum er mit seiner partiellen Ablehnung gegenüber der damaligen Änderung nicht allein da steht und warum die aktuelle Weltrangliste von einigen Spielern sogar als „Witz“ oder „lächerlich“ tituliert wird, versuche ich euch in den folgenden Zeilen näherzubringen.  

Vielspieler werden belohnt

Gleich vorneweg die wichtigsten Punkte, die sich zum Jahre 2018 modifiziert haben, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, zusammengefasst: Im alten System gab es noch Rating Points – Pluspunkte bei einem gewonnenen, Minuspunkte bei einem verlorenen Spiel –, die dafür sorgten, dass man dafür belohnt wird, einen höher rangierenden Gegner geschlagen zu haben. Sie hatten allerdings auch zur Folge, dass kaum ein Europäer die Scheine in die Hand nahm, um nach Asien zu fliegen, wo die Gefahr deutlich höher als auf anderen Kontinenten ist, gegen einen ungesetzten Chinesen früh die Segel streichen zu müssen und viele Minuspunkte zu kassieren. Da im neuen System, das an die Gegebenheiten im Tennis angelehnt zu sein scheint, nur noch Punkte für das Erreichen der nächsten Runde gewonnen werden können und durch das Wegfallen der Rating Points weder Siege gegen Weltklassespieler noch Niederlagen gegen vermeintlich schwächere Kontrahenten ins Gewicht fallen, befürchten die Athleten keine Punktverluste mehr. Die besten acht Turnierergebnisse zählen und alle weiteren Wettkämpfe werden als Streichergebnisse gewertet. Seit Einführung dieses Systems war somit allen klar, dass Vielspieler belohnt werden. 

Anlässlich dieses Blogs habe ich mir das Video des ITTF-YouTube-Channels aus dem November 2017 angeschaut, in dem aufgezeigt wird, welche Vorteile durch die Regeländerung entstehen sollten. Der Weltverband warb unter anderem damit, dass die Weltrangliste dynamischer werden wird. Kurzer Rückblick: Ab November 2015 standen fast zwei Jahre lang immer dieselben Männer in der exakt gleichen Reihenfolge in den Top 3 des Rankings: Ma Long an der Spitze, gefolgt von Fan Zhendong und Xu Xin. Auch weil es bei den Damen nicht groß anders war, sah sich die ITTF wohl genötigt, diese Monotonie zu beenden, was nachzuvollziehen ist, da wenig Action der Popularität des Sports schadet. Wenn man sich die Zeitspanne von Anfang 2018 bis zur Einfrierung des Rankings im April 2020 vergegenwärtigt, sieht man, dass in der Herren-Weltrangliste sieben und in der Damen-Weltrangliste sogar neun verschiedene Athleten/-innen in die Top 3 eindringen konnten. Da auch in den hinteren Regionen des Klassements mehr Bewegung entstanden ist, lässt sich konstatieren, dass - egal ob man das gut oder schlecht findet - die ITTF eines ihrer Vorhaben verwirklichen konnte.

Exotische Turniere plötzlich beliebter
 
Des Weiteren erhoffte man sich, dass die Anwesenheit von Athleten aus anderen Kontinenten die bestehenden Events aufwerten werden. Sicherlich finden nun exotische Turniere mehr Beachtung als vor fünf Jahren. So reisten 2019 neben mir noch Bastian Steger, Steffen Mengel und Yuan Wan nach Lagos, um an den Nigeria Open teilzunehmen. Schwer vorstellbar, dass wir dies vor der Einführung der neuen Weltrangliste auch nur in Erwägung gezogen hätten. Die begeisterungsfähigen Landsleute von Quadri Aruna nehmen diese Entwicklung wohlwollend zur Kenntnis. Nichtsdestotrotz gibt es immer noch ITTF-Wettkämpfe, die nahezu ohne Zuschauerinteresse auskommen und somit eher einer geschlossenen Gesellschaft gleichen. Zweifellos freuen sich die Fans auf der ganzen Welt, wenn die Stars der Szene häufiger international zu sehen sind. Ob deren Knochen sowie deren Vereine über die höhere Belastung genauso glücklich sind, mag ich zu bezweifeln. In ein ähnliches Horn blies Timo Boll in seinem eingangs erwähnten Facebook-Post. Darin sprach er an, dass die Spieler, die neben den internationalen Events noch viele Ligapartien absolvieren müssen, benachteiligt werden. 

Zudem kritisierte mein Nationalmannschaftskollege Ricardo Walther bereits vor kurzem im Fachmagazin „tischtennis“, dass die ITTF zu viel Macht hat und die Spieler regelrecht gezwungen werden, an so vielen Events wie möglich teilzunehmen, worüber sich wohl auch kein TTBL-Funktionär freut, da die Liga auf diese Weise mehr und mehr abgewertet wird. Dass kaum ein Tischtennisprofi allein von den Preisgelder der World Tour sein Profidasein finanzieren kann und somit nahezu alle auf das Gehalt ihres Vereins angewiesen sind, scheint für den Weltverband bestenfalls zweitrangig zu sein. 

Gleiche Punkte für alle?!

Mein größter Kritikpunkt am aktuellen Weltranglistensystem ist allerdings, dass jeder Sieger eines Kontinentalwettbewerbs die gleiche Punktanzahl erhält – völlig gleich, auf welchem Erdteil er bzw. sie dies bewerkstelligt hat. Während Xu Xin seinen chinesischen Landsmann Lin Gaoyuan, das japanische Wunderkind Tomokazu Harimoto oder auch den WM-Bronzemedaillengewinner aus dem Jahr 2017 Lee Sangsu ausschaltete, um die letzten Asienmeisterschaften zu gewinnen, bezwang der Ozeanienmeister Heming Hu seine australischen Kollegen Dean Shu sowie Rohan Dhooria oder auch Ocean Belrose aus Französich-Polynesien. Xu Xin und Hu Heming erhielten genauso wie der aktuelle Europa-, Afrika- und Panamerikameister 1800 Punkte. Mir ist bewusst, dass ich hier das Extrembeispiel angeführt habe. Realistisch betrachtet ist es aber auch schwieriger, Asienmeister als Europameister zu werden, weshalb auch das in einem Ranglistensystem berücksichtigt werden sollte. Um dies noch mal in Perspektive zu setzen: Um bei Olympia 1800 Punkte zu holen, muss man ins Halbfinale einziehen. 

Ein weiteres Beispiel: Am 31.12.2017 standen drei panamerikanische Spielerinnen unter den Top 100 der Welt. Am 1.1.2018 hatte sich die Anzahl mit mittlerweile sieben Athletinnen mehr als verdoppelt, ohne dass diese im Dezember 2017 Wunder vollbracht hatten. 

Sicher ist es so, dass es grundsätzlich deutlich schwieriger ist, für afrikanische, amerikanische oder auch ozeanische Akteure, in die Weltspitze vorzudringen als für Europäer oder Asiaten, da die tischtennisspezifische Infrastruktur und das Know-how vor Ort auf einem viel niedrigeren Niveau sind. Ich bin dankbar, in Deutschland aufgewachsen zu sein, und möchte mir nicht anmaßen, zu behaupten, die Opfer, die die „Exoten“ aufgebracht haben, nachvollziehen zu können. Viele der bekannten südamerikanischen Tischtennisspieler verbringen den Großteil des Jahres in Europa – 10.000 km entfernt von der Familie. Deshalb schwingt auch bei mir Sympathie mit, wenn ich sehe, dass besonders diese Athleten von der 2018 getätigten Reform profitieren. Nichtsdestotrotz halte ich diese Punktevergabe für falsch, da der Anteil der gesammelten Punkte bei ihren Kontinentalevents im Vergleich zur Gesamtpunktzahl deutlich höher ist, als dies bei einem durchschnittlichen Europäer der Fall ist. Hinzu kommt, dass sie aufgrund ihrer hohen Ranglistenpositionen bei den World-Tour-Turnieren gut gesetzt sind – sicher kein Nachteil.

ITTF weist Kritik zurück

Ein mir bekannter Spieler hatte in einer Mail an die ITTF ähnliche Punkte angeführt, worauf von Seiten des Weltverbandes die Antwort kam, dass man keinen Athleten diskriminieren möchte, was vorerst ein löblicher Grundgedanke ist. Darüber hinaus behauptet die ITTF allerdings, ein faires, neutrales System implementiert zu haben und dass die Ansichten, die ich mit vielen Athleten teile, lediglich subjektiv sind. Dabei geht der Weltverband so weit, dass beteuert wird, dass alle Sportler die gleichen Voraussetzungen haben. 

Eine weitere Frage, die sich mir beim momentanen System stellt, ist, ob es fair ist, dass die absoluten Topspieler, die aufgrund ihrer herausragenden Leistungen bereits von den Teilnahmen am World Cup, an den Grand Finals und von ihren guten Setzungen profitieren, auch noch zusätzlich zu den acht gewerteten Turnieren Bonusevents à la T2 Diamond spielen dürfen, bei denen noch einmal extra Punkte ausgeschüttet werden, was im Grunde bedeutet, dass diese Akteure neun bzw. zehn Events in der Wertung haben. Wie erklärt man das einem Spieler, der zwischen Position 30 und 50 steht und alles investiert, um in die Phalanx der ganz Großen einzubrechen? Muss der dann „einfach“ doppelt so gut spielen? 

Wirklich eine bessere Zukunft für alle?

Um den Umfang dieses Blogs nicht zu sprengen möchte ich es hierbei belassen. Dabei bin ich auf diskutable Themen wie die Zurücknahme der Punktehalbierung für gesetzte Spieler bei einer Erstrundenniederlage oder die Tatsache, dass manche U21-Akteure im Herren-/Damen-Ranking höher positioniert sind als in ihrer Juniorenweltrangliste, noch gar nicht vertieft eingegangen. Letztendlich lässt sich konstatieren: Die aktuelle Weltrangliste ist unter Profis ein heiß diskutiertes Thema. Sicherlich gibt es auch positive Änderungen - etwa in puncto Vermarktung. Doch sollte es nicht eine Überraschung sein, wenn die 90 der Welt die Nummer 20 schlägt? Aktuell ist dies nicht mehr zwingend der Fall. Früher konnte man darüber streiten, ob die 50 der Welt der Stärke nach eventuell auf Position 40 oder doch auf 65 gehört. Mittlerweile kann die 80 auch die 280 sein. Genau deshalb hätte es meiner Meinung nach eine signifikante Anhebung der Bonuspunkte, die es im alten System zusätzlich zu den Rating Points schon gab, auch getan. Somit denke ich, dass die Weltrangliste seit bald drei Jahren ihren eigentlichen Zweck verfehlt. Aber eines muss man der ITTF lassen: Irgendwas fällt ihnen immer ein. Denn im Januar gibt es mal wieder eine Neuerung: “World Table Tennis - coming 2021”. Grand Smashes werden eingeführt, Kontinentalturniere sollen nach meinem aktuellen Kenntnisstand stark abgewertet werden und selbst die Einzel-WM wurde vom CEO des Weltverbandes kurzzeitig in Frage gestellt. „Changes for a better future for all“– are you sure? 

(Kilian Ort)

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