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Janinas Blog: Keine Übermenschen

Xu Xin und Liu Shiwen konnten die hohen Erwartungen nicht erfüllen (©ITTF)

27.07.2021 - Während sich gestern Abend ein Taifun auf die Küste Japans zubewegte, geriet auch das chinesische Tischtennisteam förmlich in einen Wirbelsturm. Die erste Möglichkeit, bei den Olympischen Spielen in Tokio ganz nach oben aufs Tischtennis-Treppchen zu klettern, verpassten die Chinesen und ließen stattdessen Jun Mizutani und Mima Ito den Vortritt. Redakteurin Janina Schäbitz saß vor Ort auf der Tribüne und ließ sich von der Begeisterung der Japaner anstecken. Ist da noch mehr zu holen?

Seit 2012 fahre ich jedes Jahr zu Weltmeisterschaften (sofern sie nicht wegen Corona ausfallen, versteht sich) und habe immer die leise Hoffnung, dass sich die chinesische Mauer einmal durchbrechen lässt. Das hat nicht den Hintergrund, dass ich die chinesischen Tischtennisspieler nicht leiden könnte oder es ihnen nicht gönnen würde. Bis jetzt habe ich sie stets sehr freundlich und höflich erlebt. Es liegt eher am Bayern-München-Phänomen: Wenn eine Mannschaft so übermächtig ist, dass ihr eigentlich schon vor Turnierstart die Trophäe überreicht werden könnte, führt das bei mir meistens dazu, dass ich eher dem Gegner die Daumen drücke, wenn dieser nicht gerade ein großer Unsympath ist. Sport ist schließlich witzlos, wenn es nicht mehr darum geht, wer gewinnt, sondern nur noch, wie deutlich sich der Favorit durchsetzt. Im Fall des Mixed-Finals gestern Abend hätte ich mein Geld ganz klar auf China gesetzt. Zwar hatte ich kurz zuvor mit Jun Mizutanis Ex-Privattrainer G.C. Foerster gesprochen, der die Gewinnwahrscheinlichkeit bei 50:50 sah und den Mixed-Wettbewerb als größte Goldchance bezeichnete, die Japan im Tischtennis je hatte. Und dennoch wogen bei mir die Erfahrungen der vergangenen neun Jahre schwerer, so dass ich es nicht kommen sah, dass China sich ausgerechnet in diesem historischen Wettbewerb, auf den man sich seit Jahren akribisch vorbereitet und zu dem man die absoluten Spezialisten Xu Xin und Liu Shiwen geschickt hat, die Butter vom Brot nehmen lässt.

Auch nur Menschen

Dass wir uns nicht falsch verstehen: Mima Ito und Jun Mizutani sind ein hervorragendes Mixed und haben schon viele gute Gegner geschlagen. Ein Sieg lag also durchaus im Bereich des Möglichen. Wer China bei den wichtigsten Großevents, also den Weltmeisterschaften und vor allem den Olympischen Spielen, beobachtet, erhält aber den Eindruck, dass ihre Übermacht hier noch einmal stärker ist, es noch weniger Lücken im System gibt, durch die man womöglich dringen könnte (wenn sie nicht gerade solche Späßchen machen wie mit den gemischten Doppeln bei der WM 2017, wovon Ishikawa/Yoshimura profitierten). 28 von 32 Goldmedaillen gingen in der Geschichte der olympischen Tischtenniswettbewerbe (bis gestern) an China, bei Weltmeisterschaften triumphierte das Reich der Mitte 145 Mal und damit mehr als doppelt so oft wie die zweitplatzierten Ungarn - noch Fragen? Ich traute also gestern meinen Augen kaum, als sich Mizutani und Ito nach Satz zwei berappelten, ausglichen, in Führung gingen und China im siebten Satz zeitweise förmlich überrannten. Es auf den Heimvorteil zu schieben, funktioniert auch nicht. In der Halle saßen eine Menge Chinesen, die deutlich lauter waren als die japanische Delegation. Der gestrige Abend hat für mich also vor allem eines gezeigt: Es ist möglich! Auch wenn es nach 2004 niemandem mehr gelungen ist, die Chinesen in einem Olympiafinale zu besiegen, sind auch sie nur Menschen.

Und zwar Menschen, die unter immensem Druck stehen. Das wurde gestern auch bei der Pressekonferenz noch einmal sehr deutlich. Xu und Liu entschuldigten sich bei ihren Fans und dem Trainerteam, das so hart für sie gearbeitet hat, für die große Enttäuschung, die sie verursacht haben. Was für ein Druck muss auf jemandem lasten, der in einer Tischtennisnation wie China, die sich vor hochklassigen Spielern kaum retten kann, dazu auserwählt wird, das Land bei Olympischen Spielen zu vertreten? Zu scheitern ist da keine Option. Sich über Silber freuen? Nein, es zählt nur Gold. So konnten die beiden einem gestern leid tun. Und man kann sich sicher sein, dass sie sich in ihrem zweiten Wettbewerb, der Teamkonkurrenz, aufopfern werden, um diesen Schaden wieder gutzumachen. 

Kleiner Riss im Selbstvertrauen?

Was ist im weiteren Turnierverlauf also möglich? Während ich hier auf der Pressetribüne sitze und diesen Blog schreibe, hat Fan Zhendong dem Franzosen Emmanuel Lebesson bei seinem ersten Auftritt ganze 14 Punkte in vier Sätzen überlassen. Auch auf Ma Long ist eigentlich immer Verlass und die beiden Damen werden bei ihrem Olympia-Debüt sehr hungrig sein. Doch einen kleinen Riss in ihrem Selbstvertrauen kann der Taifun, der da gestern durchs chinesische Team gewirbelt ist, durchaus hinterlassen haben. Im Unterschied zu anderen Mannschaften hat sich China 2021 komplett zurückgezogen und im Februar bereits erklärt, bis zu den Olympischen Spielen keine Turniere im Ausland mehr spielen zu wollen. Haben sie sich mit dieser Taktik verrechnet? Fehlen ihnen die Vergleiche mit ihren internationalen Gegnern, auch wenn sie im eigenen Land natürlich genug gute Spieler haben, die als Edel-Sparringspartner dienen können? Auch in diesem Fall neige ich zum defensiven Tipp. Aber ein kleiner Zweifel ist zumindest gesät. 

(JS)

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