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Dietmars Blog: Wider den Sportsgeist

Am Ende wurde Linz doch noch für die Aufholjagd belohnt (©Facebook/Linz AG Froschberg)

01.02.2022 - Ein großes Problem des Tischtennis-Sports ist das unübersichtliche, aber vor allem auch uneinheitliche Regelwerk. In der Champions League hat kürzlich wieder eine neue Vorschrift eine Premiere gefeiert. Am „Golden Match“ stört unseren Blogger Dietmar Kramer weniger die zusätzliche Befrachtung des Sports mit noch einer weiteren Regel, sondern vor allem, dass sie dem Wettbewerbsgedanken zuwiderlaufe.

Tischtennis-Fans müssen auch leidensfähig sein. Im vergangenen Vierteljahrhundert hat sich der Sport erheblich verändert. Abgesehen von der Modernisierung von Spielgeräten und -material hat der Zeitgeist auch in den Regeln und der Außendarstellung Einzug gehalten. So sehr bestimmt der Wunsch von Machern und Organisatoren nach immer noch mehr Spektakel das Geschehen in der Box, dass manche Anhänger Tischtennis schon seit geraumer Zeit kaum noch wiederzuerkennen meinen. Auch ohne Vorliebe für Traditionalismus und „die gute alte Zeit“ ist diese Haltung bei Angehörigen der Tischtennis-Szene nachvollziehbar. Ebenso die mangelnde Ausdauer von Neugierigen außerhalb der Community, die sich angesichts der wirklich vielen unterschiedlichen Spiel-, Zähl- und Wertungssysteme trotz ursprünglichen Interesses am Sport von Timo Boll und Jörg Roßkopf wieder genervt abwenden. 

Vor diesen Hintergründen kann nach der Premiere der „Golden Match“-Regel für die K.o.-Phase der Champions League in der zweiten Januar-Hälfte kaum Freude oder gar Feierlaune aufkommen. Denn das Kapitel Tischtennis-Geschichte, das im Viertelfinal-Rückspiel in der Königsklasse der Damen zwischen Etival Clairefontaine und Linz AG Froschberg geschrieben wurde, ist zumindest ein fragwürdiges, wenn nicht sogar ein düsteres: Die erstmalige Anwendung des neuen „Golden Match“-Effektes bedeutete nicht weniger als die Abkehr von Grundprinzipien des Wettbewerbs und damit einen regelrechten Sündenfall.

4:3 zählt als Unentschieden!?

Weil der vermeintliche Coup vorab kaum in die Öffentlichkeit getragen wurde, an dieser Stelle zunächst eine Kurzvorstellung der „Golden Match“-Regel: Auch wenn eine Mannschaft das Hinspiel mit 3:0 oder 3:1 gewinnt, benötigt dieses Team für den Gesamtsieg im Rückspiel auf jeden Fall immer noch zwei Einzelerfolge. Gelingt das nicht, finden unmittelbar nach Abschluss des regulären Rückspiels zur Ermittlung des Siegers nochmals bis zu drei Einzel in frei wählbarer Aufstellung über lediglich einen Satz statt. Nachdem Linz das Hinspiel in eigener Halle 1:3 verloren, aber das Rückspiel 3:0 gewonnen hatte, griff in den Vogesen zum ersten Mal der goldene Plan und spielten die Aktiven nochmals insgesamt drei Sätze mit dem glücklicheren Ende wiederum für die Österreicherinnen.

Unverständnis, vielleicht auch Empörung im Falle eines Erfolgs der französischen Gastgeber wären wohl nur allzu verständlich gewesen. Für einen Fetzen künstlicher Spannung sind die Champions-League-Macher gewillt, eherne Gesetze des Sports auszuhebeln - der 4:3-Vorsprung von Sofia Polcanova und Co. war in Frankreich unerklärlicherweise nicht mehr wert als ein 3:3, 4:4 oder auch 5:5! Wie kann man auf eine solche Idee kommen? Eine Warnung vor der falschen Richtung hätte doch schon sein müssen, dass in den ohnehin schon 30-seitigen Durchführungsbestimmungen zur optischen Verdeutlichung nun auch eine vielfarbige Grafik mit der Darstellung der insgesamt neun Möglichkeiten für eine Gesamtwertung beider Begegnungen benötigt wird. Doch einfacher Sport ist erfolgreicher Sport, einfach muss es sein!

Natürlich haben die Königsklassen-Organisatoren es nicht leicht. Die unterschiedlichen Kräfteverhältnisse in der europäischen Vereinslandschaft garantieren in der Regel frühestens ab den Halbfinals oder gar erst Endspielen Spannung. Im laufenden Herren-Wettbewerb etwa endeten sechs von acht Spielen 3:0, zudem konnte sich in keinem Rückspiel der Verlierer eines Hinspiels durchsetzen oder sogar noch eine Wende herbeiführen.

Sportlich nachvollziehbare Gradmesser unverzichtbar

Diese strukturelle Schwäche ist - in der Kombination mit der weiterhin schwierigen Eindämmung der kaum kalkulierbaren Dauer eines Spiels - in der Tat ein Problem für die Champions League. Zur Rechtfertigung der „Golden Match“-Regel taugt aber auch ein Vergleich mit der jahrzehntelang angewendeten, inzwischen aber auch abgeschafften Auswärtstor-Regel in den Fußball-Europapokalen nicht: Die Regel griff bei einem objektiven Gleichstand von Toren und nicht nur von zwei Endergebnissen, mithin also bei der Messung des Spielzwecks – und war außerdem für jedermann verständlich. In der Tischtennis-Champions-League hingegen werden sportlich nicht nachvollziehbar Grenzen gezogen, denn, man beachte: Ein 5:3 oder nur ein 5:4-Gesamtresultat nach Hin- und Rückspiel zieht ebenso wenig ein „Golden Match“ nach sich wie zwei Erfolge einer Mannschaft in beiden Begegnungen. Alles klar?

Nein, ist es nicht, und schon gar nicht ist das richtig. Das „Golden Match“ in dieser Form kann und darf auch nicht über das Ende der laufenden Saison Bestand haben. Linz wäre durch diese absurde Regel fast um die verdiente Belohnung für seine Sternstunde nach imponierender Aufholjagd gebracht worden, und auch die angemessene Würdigung von klaren Erfolgen in Hinspielen darf nicht verloren gehen.

Einfallsreichtum schon bewiesen

Die Champions-League-Macher haben ihren Einfallsreichtum hinsichtlich Spannung aber doch auch schon bewiesen. Die Einführung des Blitzsatzes in Entscheidungsdurchgängen von Königsklassen-Einzeln nur bis zum sechsten statt weiter bis zum elften Punkt ohne einen Mindestvorsprung von zwei Zählern ist ein Paradebeispiel für eine dosierte, weil auch wohlüberlegte Anpassung des Spiels zugunsten von mehr Spannungsmomenten bei gleichzeitiger Begrenzung der Spieldauer. Dazu noch auf eine sportliche Weise: Der sechste Punkt für einen Spieler entscheidet das Match – ganz einfach. Das „Golden Match“-Projekt ist auch angesichts des längst noch nicht erschöpften Besteckkastens der Organisatoren zur Erhöhung der Spannung unergründlich. Bei einem tatsächlichen Gleichstand nach zwei Begegnungen etwa wäre die Regel sehr wahrscheinlich sogar ein Hit. Außerdem aber könnte selbst nach einem 3:0- oder 3:1-Sieg eines Teams im Hinspiel die momentan außer Kraft gesetzte Wertung von Sätzen und möglicherweise sogar Punkten auch noch im Rückspiel einen „Krimi“ entstehen lassen. Positiv für Spannung und Spielzeit würde sich auch die schon länger debattierte Aufhebung des vorgeschriebenen Polsters von zwei Punkten für einen Satzgewinn auswirken können. 

Ein heißes Eisen wäre natürlich ein ebenfalls naheliegender Ansatz: eine Reform des Champions-League-Modus. Gelänge etwa der Aufbau einer für Newcomer durchlässigen Wettbewerbsstruktur mit beispielsweise nur noch acht bis zehn wirklichen Spitzenteams, müssten aufgrund der konzentrierteren Klasse und Qualität schon zu einem früheren Saisonzeitpunkt als bisher kaum noch Sorgen um Spannungsmomente entstehen; zugleich könnte bei geschickter Planung der längst platzende Terminplan etwas entschlackt werden und bei Einführung eines krönenden Endspiels an einem neutralen Ort zudem ein für die große Öffentlichkeit interessantes Highlight entstehen. Die Finalisten müssten dann als Ausgleich für entgehende Einnahmen eines Heimspiels am wirtschaftlichen Erfolg beteiligt werden. Wie auch immer: In seiner jetzigen Form darf das „Golden Match“ keine Zukunft haben. Die Regel ist wider den Sportsgeist - und alleine deswegen in einem für Fairness bekannten und geschätzten Sport wie Tischtennis ein nicht zu tolerierendes Unding.

(Dietmar Kramer)

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