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Dietmars Blog: WTT-Reformen eine Operation am offenen Herzen

Was denken Sie über das WTT-Spielsystem? (©Pixabay)

10.11.2020 - Die Ankündigung einer völlig neuen Zählweise beim Premieren-Event der künftigen Turnierserie WTT (World Table Tennis) Ende November in Macau hat in der Tischtennis-Szene für großes Aufsehen und lebhafte Diskussionen gesorgt. Auch wenn die Stoßrichtung der Macher klar zu sein scheint, so sind für unseren Blogger Dietmar Kramer noch viele wichtige Fragen offen. Welche das sind, erläutert er im Folgenden.

Eines muss man den WTT-Machern lassen: Mut haben sie wirklich. Die für das Premierenturnier ihrer künftigen Serie Ende November in Macau vorgestellten Zählweisen kommen nicht nur als eine tatsächliche Neuheit daher, sondern vermitteln nachdrücklich den offenkundig stark ausgeprägten Anspruch der Manager in Singapur auf eine Neuerfindung des Turniersports im Tischtennis. 

Vier Zählweisen für 19 Matches
Versuch macht klug – das mögen sich die Köpfe bei der WTT-Organisation allem Anschein nach gesagt haben, womöglich aber auch in einer unheilvollen Mischung aus Hybris und Übereifer über Gebühr immer wieder eingeredet haben. Wohl nur dadurch kann das passiert sein: Bei einem einzigen Turnier mit insgesamt nur 19 Matches kommen gleich vier Zählmodi mit drei Vorgaben für die Entscheidung von Sätzen und dabei auch nochmals zwei unterschiedliche Endpunkte (meistens der elfte Zähler, aber in fast 20 Prozent der Begegnungen eben auch schon der achte) zur Anwendung.

Man muss Innovationen gerade auch im traditionsbewussten Tischtennis noch nicht einmal verschlossen gegenüberstehen, um den kühnen Plan für überzogen, für deutlich zu viel des Guten zu halten. Statt nach vermutlich monate-, wenn nicht sogar jahrelanger Vorlaufzeit ein Turniermodell aus einem Guss vorzustellen und damit Vorfreude auf die Nachfolge-Serie der vertrauten, aber eben auch etwas angestaubten World Tour zu schaffen, erscheint das „Macau-Projekt“ vielmehr wie eine Operation am offenen Herzen in letzter Minute. Vor aller Welt Augen jedenfalls leistet sich eine mutmaßlich eher kleine Gruppe von Funktionären und sicherlich auch Geschäftemachern Doktorspiele an organisch gewachsenen Strukturen der Tischtennis-Welt.

Macau dürfte kaum erwünschten Effekt bringen
Es bedarf keiner prophetischen Fähigkeiten für die Prognose, dass Macau denn auch eines der wichtigsten Ziele verfehlen wird: eine breite(re) Öffentlichkeit für Tischtennis im Allgemeinen und die ab 2021 vorgesehene WTT-Serie im Besonderen zu interessieren und im Idealfall auch zu begeistern. So spektakulär die Bilder aus Chinas Sonderverwaltungszone auch erscheinen könnten, so wenig nachhaltiger Eindruck wird entstehen – alleine durch die völlig undurchsichtigen, ja für die angepeilte Zielgruppe der Außenstehenden sogar chaotisch erscheinenden Zählmethoden. Wer schaut auch schon länger hin, wenn die Regeln vom Vortag 24 Stunden später beim selben Wettbewerb aus nicht einmal nachvollziehbaren Gründen plötzlich wieder zum Teil ganz andere sind?!

Natürlich ist für die WTT-Serie generell und Macau speziell mit Änderungen im Vergleich zum bisherigen World-Tour-Format zu rechnen gewesen, und ebenso selbstverständlich waren Anpassungen für eine TV-gerechte Präsentation zu erwarten. Richtig zündende Ideen dafür könnten sich sogar geradezu als ein Booster für die gesamte Sportart erweisen.

Wohin will WTT?
Doch erscheint Macau bei differenzierter Betrachtung eher als Stückwerk mit „Elchtest“-Charakter denn als ein Innovations-Paket mit Perspektive. Der große Wurf jedenfalls können eine Prise Tennis-Grand-Slams (Verlängerungen nur noch im Entscheidungssatz), ein bisschen Beachvolleyball-World-Tour (Verlierer bleiben im Turnier), ein prominenter Eishockey-Begriff für Dramatik (Sudden Death) und noch ein bisschen Kahlschlag an Tischtennis-Pflöcken (Sätze bis zum achten statt elften Punkt, wo doch schon Puristen immer noch der „21“ nachtrauern) nicht sein. Zudem darf kritisch hinterfragt werden, dass das ausgerechnet sicherlich für Fernsehsender besonders interessante Finale auf nicht weniger als fünf Gewinnsätze gespielt wird. Im für Fernsehsender schlimmsten Fall dauert das Spiel dann sage und schreibe neun Sätze und kann trotz des Sudden Deaths bei „11“ zeitlich kaum kalkulierbare Durchgänge bedeuten. Das führt praktisch alle Modernisierungsbemühungen fast schon ad absurdum.

Ein derartig schlingernder und mitunter widersprüchlicher Kurs, diese ganze Reihe von mehr oder weniger großen Feldversuchen kann allerdings nur noch wenige Wochen (durch die Corona-Pandemie vielleicht auch noch wenige Monate) vor dem offiziellen Start von WTT kaum das Resultat einer als hochprofessionell gepriesenen Strategie für eine Neuausrichtung sein. 

Die Frage muss deswegen erlaubt sein, wohin WTT wirklich möchte. Auf der Suche nach einer Antwort erscheint die Vermutung nicht ganz abwegig, dass in Macau vor allem der zur Uraufführung kommende Top-4-Modus quasi als „Trojanisches Pferd“ in die Tischtennis-Welt eingeführt werden soll: Drei Gewinnsätze, also maximal fünf Runden nur noch bis zum achten Punkt im Sudden Death (mithin höchstens 15 Punkte pro Satz) würden Tischtennis tatsächlich zu einem nahezu perfekt planbaren Produkt machen – und darum geht es letztlich.

Auf dem Spiel steht nicht weniger als die Tischtennis-Identität
Tischtennis steht durch WTT – unabhängig von den drängenden Terminfragen – an einer gefährlichen Weggabelung. Entfernen sich die künftig eigenständigen Turniere des Tagesgeschäfts in ihrer Ausgestaltung und Präsentation zu weit von den traditionsreichen Höhepunkten wie den WM-Wettbewerben, kontinentalen Championaten und gar Olympischen Spielen unter der Regie des Weltverbandes ITTF, steht die Identität des Sports auf dem Spiel, seine olympische ohnehin. Denn würde Tischtennis bei WTT nach völlig anderen Regeln gespielt als in allen übrigen Wettbewerben, dürfte sein Kern sukzessive ausgehöhlt werden und sein wichtiger Wiedererkennungswert – in die eine wie die andere Richtung – verloren gehen. Für zwei faktisch miteinander konkurrierende Systeme ist Tischtennis aber schlichtweg zu schwach. 

Zurzeit deutet wenig darauf hin, dass eine durchaus begrüßenswerte, von manchen sogar als notwendig erachtete Modernisierung im Zuge einer konzertierten Aktion aller neudeutsch Stakeholder genannten Interessengruppen erfolgen könnte. Zu weit liegen die Machtpole ITTF und nunmehr auch WTT auseinander und zu viele Parteien dazwischen. Zu sehr bestimmen teilweise widerstrebende Einzelinteressen und letztlich auch Machtfragen die Entwicklung. 

Vor diesem Hintergrund sind Sorgen angebracht. Sorgen um die elementare Einheit des Tischtennis-Sports und damit seinen Fortbestand. Nicht jede Operation am offenen Herzen ist schließlich auch erfolgreich.

(Dietmar Kramer)

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