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Jans Blog: Die schwedische Kunst der Andersartigkeit

Schweden ist wieder obenauf (©ITTF)

05.08.2019 - Als sich die ‚goldene Generation‘ um Jan-Ove Waldner und Jörgen Persson von der internationalen Tischtennisbühne verabschiedet hatte, sah es um Schwedens Zukunft nicht all zu rosig aus. Das ist jetzt völlig anders, wie unser freier Redakteur Jan Lüke beobachtet. Nicht nur, dass Mattias Falck nun der beste Europäer in der Weltrangliste ist. Das schwedische Team hat viele Juwelen zu bieten, die alle einen ganz besonderen Schliff aufweisen.

Mattias Falck hat Europas Thron bestiegen (zum Artikel). Seit der vergangenen Woche ist der amtierende Vize-Weltmeister der am höchsten gelistete europäische Spieler in der Weltrangliste. Bis dahin hatte fast elf Jahre lang ein Deutscher diese Position inne – erst Timo Boll, dann Dimitrij Ovtcharov, und zuletzt wieder Timo Boll. Und nun? Heja, Sverige! 

Sweden is back!

Es lässt sich nun trefflich darüber streiten, ob Mattias Falck tatsächlich der beste Spieler des Kontinents ist. Ob es nur die mittlerweile gar nicht mehr so neue Weltranglistenberechnung ist, die ihm den Weg dorthin begünstigte. Ob die fragwürdige Vergabe von Weltranglistenpunkten bei den Einladungsturnieren der T2-Diamond-Serie, bei der Timo Boll zuletzt fehlte und keine Punkte sammeln konnte, für eine maßgebliche Verzerrung des Rankings sorgte. Unbestritten ist aber, dass sich der 1,88-Meter-Hüne aus Augerum im Südosten Schwedens in den vergangenen Jahren mit beeindruckender Konstanz verbessert hat und mittlerweile zu den besten Spielern Europas und sogar der Welt aufgeschlossen hat.

Überhaupt: Schweden mischt wieder in der absoluten Weltspitze mit. Nicht nur sein neues Aushängeschild Mattias Falck befindet sich dieser Tage im Höhenflug, das gesamte schwedische Männer-Tischtennis reitet derzeit auf der Erfolgswelle. Man könnte sagen: eine Renaissance. Das stolze Schweden hatte über Jahrzehnte zur Weltelite gehört: in den 70er Jahren um Spieler wie den jüngsten Weltmeister aller Zeiten, Stellan Bengtsson, in den 80er und 90er Jahren mit Erik Lindh, Mikael Appelgren oder Peter Karlsson. Bis in die 2000er Jahre hinein mischten dann Jan-Ove Waldner und Jörgen Persson die Weltspitze auf – die goldenste aller goldenen Generation im schwedischen Tischtennis. Gleichzeitig aber wurden Waldner, Persson & Co. zum Problem für die blau-gelbe Tischtennisnation: Weil die Ausnahmespieler bis ins hohe Alter enorme Leistungen ablieferten, kamen fast zwei Generationen schwedischer Spieler nie in der absoluten Weltspitze an. Spieler wie Magnus Molin oder Robert Svensson, Jens Lundqvist oder Pär Gerell waren gut, aber reichten nie an die Extraklasse ihrer Vorgänger heran. Als Waldner und Persson in ihren Vierzigern allmählich abdankten, lag das schwedische Tischtennis meilenweit von der Weltspitze entfernt.

Einfach anders als die anderen

Mattias Falck ist nicht der einzige Beweis, dass die Schweden auf dem Weg zurück zu alter Stärke sind. Kristian Karlsson entwickelte sich in den vergangenen Spielzeiten kontinuierlich weiter und nähert sich ähnlich wie vor ihm Falck mit kleinen Schritten den besten 20 Spielern der Welt. Der ehemalige Jugendeuropameister Anton Källberg scheint seine Schwächephase überwunden zu haben und klettert in der Weltrangliste ebenso stetig wie der unscheinbare Jon Persson. Wie Falck und Karlsson beweist auch Persson, dass sich Profis in ihren Zwanzigern noch kontinuierlich steigern können. Und dann wäre da ja auch noch Truls Möregårdh. Der Jugend-Europameister und Jugend-Vizeweltmeister ist der derzeit vielleicht spannendste U-20-Spieler der Welt, auch wenn ihm Lin Yun-Ju oder Tomokazu Harimoto noch klar voraus sind.

Möregårdh zeigt auch, was das schwedische Tischtennis derzeit besonders macht. Das Gefühlswunder variiert Tempo, Platzierung und Spielrhythmus, wie es vielleicht seit Ma Lin kein Spieler mehr getan hat, auch wenn Möregårdh noch beweisen muss, dass sein Stil auch dem Toplevel im Erwachsenenbereich standhält. Möregårdh variiert Stops und Schüsse, die in den Spielsystemen zuletzt fast verschwunden waren. Möregårdh spielt einfach anders als die anderen.

Buntes Repertoire im Team

Den Schweden gelingt es extrem gut und vermutlich so gut wie keiner anderen Nation, Athleten mit besonderen Stärken zu fördern und unterschiedliche Spielstile in ihrer Nationalmannschaft zu versammeln. Kristian Karlsson spielt extrem aggressiv, schnellkräftig und vorhandlastig, fast wie einst die legendären Franzosen Jean-Philippe Gatien oder Christoph Legout. Anton Källberg spielt das moderne Tischtennis des vergangenen Jahrzehnts mit einer enorm stabilen Rückhandseite, über die er – vom Aufschlag angefangen – sein Spiel aufbaut, und beidseitig tischnahen Topspins. Jon Persson spielt unscheinbar, passiv extrem stark und mit überragender Ballsicherheit, aber wenig Athletik und Durchschlagskraft. Und dann ist da eben noch jener Mattias Falck: Der Vizeweltmeister agiert als erster Weltklassespieler seit fast 20 Jahren und Chinesen wie Wang Tao mit einer kurzen Noppe, und das auch noch auf der Vorhand. Wenn man sieht, wie selbst den Topchinesen das Timing fehlt, wenn sie Falcks Topspins attackieren, kann man seine Kurznoppe in einem immer stabiler werdenden Spielsystem nur als Waffe beschreiben.

Es mag Nationen und Ausbildungssysteme geben, in denen man junge Talente alle auf ein und denselben erfolgversprechenden Spielstil festzulegen versucht. Charakteristisch und markant am derzeitigen Erfolg der Schweden ist hingegen, dass gerade Spieler wie Möregårdh oder Falck, deren Stil nicht dem vermeintlichen Ideal oder der gerade gängigen Norm entspricht, ihre Art zu spielen weiterentwickeln konnten. Ein Blick auf die aktuelle Weltrangliste zeigt, wie weit man es damit bringen kann. 

(Jan Lüke)

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