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Dietmars Blog: Entwertung des Europe-Top-16-Turniers durch Startplatz-Begrenzung

In diesem Jahr gewann Timo Boll das Finale gegen Dimitrij Ovtcharov (©ITTF)

19.11.2018 - In zwei Wochen erscheint die Dezember-Weltrangliste. Aus dem Ranking ergeben sich die Teilnehmer am prestigeträchtigen Europe-Top-16-Turnier (früher Europe Top 12) – durch eine Reglementsänderung jedoch spielen Anfang Februar in Montreux eben nicht mehr die 16 Besten des Kontinents um Plätze bei den World Cups im folgenden Herbst. Dietmar Kramer hat sich mit den Hintergründen der Entscheidung und ihren Auswirkungen beschäftigt.

Top-16-Turnier als sportpolitischer Spielball
Sport ist manchmal eben nicht nur höher, schneller, weiter. Seine Regularien sind mitunter weitaus mehr als die Beschreibung von Wegen zur Feststellung von Bestleistungen oder von Sieg und Niederlage, sondern nicht zuletzt Ausfluss von sportpolitischen Verhandlungen und Anpassungen an ein großes Ganzes. Da können allgemein anerkannte Grundlagen des sportlichen Wettstreits, ja sogar das Wettbewerbsverständnis an sich unter den Tisch fallen.

Ein Beispiel dafür liefert die Reform der Teilnahmeberechtigung für das traditionsreiche Europe-Top16-Turnier. Ohne die vom Europa-Verband ETTU bei den Europameisterschaften im vergangenen September in Alicante beschlossenen Beschränkungen wäre das Prestigeturnier, das einst als Europe Top 12 den Tischtennis-Kontinent in seinen Bann zog, nicht nur seinem Namen nach ein wahrhaftiges Stelldichein der europäischen Crème de la crème, der besten 16 eben, wenn man die formale Zugehörigkeit des Europameisters zu diesem Kreis voraussetzt und von der möglichen Wildcard für die Gastgeber für den Fall nicht automatisch qualifizierter Spieler aus der Veranstalter-Nation (wie jetzt für die Schweiz) absehen mag.

Mit einer solchen Erwartungshaltung allerdings dürfen sich Tischtennisfans Anfang Februar in Montreux enttäuscht sehen. Denn die ETTU hat beschlossen, dass fortan nur noch maximal zwei Aktive pro Nation zum zweitwichtigsten Turnier auf dem Alten Kontinent zugelassen sind. Das hat in der Schweiz zur Folge, dass der Kreis der Besten anhand der sportlichen Kriterien laut der anstehenden Dezember-Weltrangliste statt auf bestenfalls 15 beschränkt zu sein bis hinunter auf Positionen um Platz 20 herum ausgeweitet wird. 

DTTB-Asse als Leidtragende
Leidtragende sind vor allem die deutschen Asse: Hinter dem europäischen Spitzen-Duo Timo Boll und Dimitrij Ovtcharov ist in Montreux – das November-Ranking als Grundlage genommen – für den Europaranglistenvierten Patrick Franziska aus der formal in Betracht kommenden Top-16-Gruppe schon ebenso kein Platz mehr wie für Mixed-Europameister Ruwen Filus als Nummer elf. Beide könnten nur im Falle eines Ausfalls von Boll oder/und Ovtcharov aufschlagen. Als Nachrücker für weitere Ausfälle kommen aber Ricardo Walter (Nummer 16), Benedikt Duda (17) und Bastian Steger (19) mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht infrage. 

Die ETTU begründet die Reglementsänderungen im Bereich der Zulassungen mit dem Status des Turniers als Qualifikation für den World Cup und einer entsprechenden Anpassung: Einerseits seien auch beim drittwichtigsten Wettbewerb nach Olympia- und WM-Turnieren auch höchstens zwei Aktive pro Nationalverband spielberechtigt, und andererseits könnten auch bei anderen Ausscheidungsturnieren wie dem Asian Cup lediglich zwei Spieler aus einem Land antreten. Vor die Wahl gestellt zwischen der Beachtung im Sport durchaus maßgeblicher Kriterien wie Leistungsstärke auf der einen Seite und der Harmonisierung von internationalen Regularien auf der anderen Seite entschied sich der Deutsche Tischtennis-Bund (DTTB) bei der Abstimmung über den entsprechenden Antrag in Alicante für eine Stimmenthaltung.

DTTB-Enthaltung ein nachvollziehbarer Schritt
Vordergründig betrachtet hätte man sich deswegen einerseits vom DTTB womöglich mehr Einsatz für die Interessen seiner Aktiven gewünscht haben wollen. Aber nur vordergründig; denn andererseits ist der Verband eben nicht nur kurzfristig seinen derzeit tatsächlich in Mannschaftsstärke in der europäischen Elite vertretenen Stars verpflichtet, sondern sportpolitisch fraglos auch der Entwicklung des Wettkampfsportes auf internationaler Ebene – eine Angleichung miteinander verwobener Wettkampfformate kann zweifellos als Teil dieser Verantwortung angesehen werden. Vor diesem Hintergrund war die Enthaltung für den DTTB womöglich ein salomonischer Ausweg aus seinem Dilemma – auch wenn die Motivation anderer Verbände für ihre Zustimmung durchaus gerade die Beschneidung von Deutschlands momentanen Chancen gewesen sein könnte.

Der Beschluss hätte sich für die ETTU aber prompt auch als Schuss ins eigene Knie entpuppen können: Hätte nämlich Franziska im EM-Halbfinale seine komfortablen Vorsprünge gegen Boll nach Hause gebracht und danach im Endspiel gegen den Rumänien Ovidiu Ionescu auch den Titel gewonnen – es wäre der letztjährige World-Cup-Gewinner, zweimalige EM-Champion und ehemalige Weltranglistenerste Ovtcharov gewesen, der in Montreux trotz seines Status als zweitbester Europäer hätte zuschauen müssen. 

ETTU entwertet ihr eigenes Tafelsilber
Nichts gegen Franziska, aber der fiktive und doch nur zufällig nicht Realität gewordene EM-Verlauf verdeutlicht den Fehler im System: Ein Regelwerk, das die Besten seines Sports von Eliteturnieren auszuschließen vermag und auf diese Weise den Sport beinahe schon pervertiert (eine Änderung der Lage durch Resultate wäre Ovtcharov praktisch überhaupt nicht möglich gewesen), taugt nicht wirklich etwas.

Mehr noch: Ausgerechnet die ETTU, der bei der Aufzählung ihrer wenigen Highlights auf absolutem Spitzenniveau die Finger einer Hand reichen und die trotzdem bislang nur höchst mäßige Vermarktungserfolge zu verzeichnen hat, ausgerechnet diese ETTU also wertet einen ihrer bedeutendsten Wettbewerbe und mithin einen wichtigen Teil ihres „Tafelsilbers“ sehenden Auges selbst in nicht unerheblichem Maße ab. 

Dafür ist nur schwerlich Verständnis aufzubringen. In Zeiten des knallharten Konkurrenzkampfes der Sportarten um Medieninteresse, Fans, Zuschauer und nicht zuletzt Sponsoren liegt auf der Hand, dass das Beste gerade gut genug sein kann. Nicht zum ersten Mal drängt sich vor diesem Hintergrund der Eindruck auf, dass viele Spitzen im Tischtennis sich ihre eigenen Realitäten geschaffen und in dieser wirklichkeitsfremden Blase ganz gemütlich eingerichtet haben.

Grundsatzgedanken über unterschiedliche Formate nötig
Im Übrigen lenken Überlegungen zum Europe-Top-16-Cup die Gedanken auch schnell zum Weltcup. So publikums- und medienwirksam das Format dieses tatsächlichen Highlight-Events und so einleuchtend die Zusammenstellung des entgegen des Stellenwertes nicht nur exquisiten Teilnehmerfeldes dabei auch sein mögen – Schwächen sind auch in diesem Fall nicht zu überdecken. Denn wenigstens ein Patrick Franziska, wie gesagt die Nummer vier in Europa und zudem inzwischen auch in den Top 20 der Welt angekommen, dürfte sich schon so seine Gedanken über die Teilnahme eines Australiers von jenseits der 150 machen. Einen falschen Pass sollte man im Sport jedenfalls nicht haben können.

(Dietmar Kramer)

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