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Janinas Blog: Ein denkwürdiges freies Wochenende

Ein deutsches Finale hat es beim World Cup noch nie gegeben (©ITTF)

23.10.2017 - Wäre dieser World Cup der Herren als Kinofilm über die Leinwand geflimmert, hätte man ihn vielleicht als mitreißend, aber doch etwas konstruiert bewertet. Timo Boll holt erst ein 4:10 im Entscheidungssatz gegen Chinas Shootingstar Lin Gaoyuan auf, schlägt dann den Dominator unserer Zeit, Ma Long, es kommt zum ersten deutschen Finale der World Cup-Geschichte und Dimitrij Ovtcharov siegt in seinem Endspieldebüt. myTischtennis.de-Redakteurin Janina Schäbitz über ein denkwürdiges Wochenende.

Ich hatte am Wochenende frei. Und auch wenn man sich als Redakteurin von Deutschlands größter Tischtenniswebseite gedanklich nie so ganz von diesem Sport freimachen kann, ist es doch - gerade als Nicht-Tischtennisspielerin - auch ganz schön, sich einmal für zwei Tage mit anderen Dingen zu beschäftigen. Wie kommt es also, dass ich trotzdem wie gebannt vor dem ITTF-Livestream hänge und damit die Geduld meiner lieben Mitmenschen strapaziere, die ja eigentlich Zeit mit mir verbringen wollen? Ganz ehrlich? Da muss schon etwas Außerordentliches passieren. Und genau das war am Wochenende der Fall. Für mich war dieser World Cup der Herren eines der denkwürdigsten Ereignisse, seit ich mich intensiv mit Tischtennis beschäftige.

Langeweile durchbrochen

Seit über fünf Jahren arbeite ich jetzt schon für myTischtennis.de und fahre Jahr für Jahr rund um den Globus zu den Weltmeisterschaften - immer mit der Hoffnung im Gepäck, einmal die große Sensation zu erleben und darüber berichten zu können. Doch ich habe schnell gelernt, dass im Tischtennis die Überraschungen deutlich spärlicher gesät sind als in anderen Sportarten, zumindest was diese eine Weisheit angeht: Am Ende gewinnt halt doch immer China. Eine solche Dominanz kommt im Sport nicht von Ungefähr und ist hochverdient, aber sie ist halt auch - mit Verlaub - ziemlich langweilig. Die Team-WM in Dortmund 2012 war das erste Großereignis, bei dem ich auf der Pressetribüne saß und seitdem hat es bei den drei wichtigsten Wettbewerben im Tischtennissport, den Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften und dem World Cup, mit einer einzigen Ausnahme voriges Jahr beim World Cup der Damen, bei dem aber keine Chinesinnen am Start waren, nur eine Fahne gegeben, die zur Siegerehrung nach ganz oben gezogen wurde: die chinesische. Die Hoffnung, dass es doch einmal jemandem gelingt, etwas Abwechslung in die Siegerlisten zu bringen, schwingt zwar immer mit, wurde aber bislang stets enttäuscht. Dass dieses Kunststück im Herrenbereich nun ausgerechnet von deutschen Spielern gemeistert wurde, macht das Ganze aus unserer Sicht natürlich noch einen Tick sensationeller und schürt die Hoffnungen auf die kommenden großen Turniere.

Die Vorzeichen bei diesem World Cup waren aus deutscher Sicht sicherlich günstig. Da wäre erstens die starke Form zu nennen, die sowohl Dimitrij Ovtcharov als auch Timo Boll in dieser Saison an den Tag legen. Ersterer konnte in diesem Jahr schon die China, India und Bulgaria Open sowie das Europe Top 16 gewinnen, Letzterer entschied die Korea Open sowie die Deutschen Meisterschaften für sich und zeigt sich bei T2 APAC wie auch Ovtcharov von einer ganz starken Seite. Zweitens profitierte man natürlich davon, dass mit Lin Gaoyuan keiner der Weltranglistenspitzen als zweiter Chinese mit nach Lüttich fuhr und damit die Möglichkeit zuließ, dass in einer Hälfte des Turnierbaums ohne Beteiligung des ‚Reichs der Mitte‘ gespielt werden konnte. Ovtcharov als an Position zwei Gesetzter bekam so die ungewöhnliche Chance, ohne Match gegen einen Chinesen ins Finale eines World Cups einzuziehen. Drittens hatte Ma Long vor diesem Turnier vier Monate keine internationalen Turniere gespielt, ist wegen der Boykott-Geschichte bei den China Open noch immer im Visier der ITTF und war bei seinem letzten nationalen Auftritt, den National Games, im September körperlich nicht ganz fit. Auch wenn ein Ma Long trotzdem immer unfassbar schwer zu schlagen ist - was er auch bei den National Games bewies -, haben ihm in Lüttich sicherlich ein paar Prozentpunkte weniger zur Verfügung gestanden als bei der WM in Düsseldorf.

Keine falschen Hoffnungen

Doch wie das so ist mit Vorzeichen, Chancen und Möglichkeiten: Man muss sie auch erst einmal nutzen. Gerade gegen China bekommt man meistens keine zweite Chance, wenn man die erste versiebt hat. Dass Timo Boll mit seinen 36 Jahren zweimal seine Chancen nutzte, obwohl er sowohl gegen Lin als auch gegen Ma schon mit 1:3 hinten gelegen hatte, ist wirklich sensationell. Manch einer wird ihm am Ende auch den großen Wurf als Belohnung für diese Kraftakte gegönnt haben, zumal er den Weg letztlich auch für seinen Kollegen Ovtcharov freigeräumt hat. Dessen Leistung sei damit aber keineswegs geschmälert. Zwar blieben ihm die chinesischen - und sogar asiatischen - Gegner erspart, jedoch hatte auch er gegen Aleksander Shibaev und Simon Gauzy sehr schwere Spiele zu bestehen, die er erst im siebten Satz für sich entscheiden konnte. Im direkten Vergleich, dem ersten deutschen World Cup-Finale der Geschichte, war er dann einfach der bessere Spieler und damit der verdiente Sieger.

Mit welcher Erkenntnis gehen wir also aus dem Wochenende? Auch wenn die Japaner den deutschen Herren den zweiten Platz hinter China zuletzt immer wieder streitig machten, ist Deutschland zumindest in der näheren Zukunft weiterhin Großes zuzutrauen. Gleichzeitig wurde aber auch Jan Lükes Sorge, dass der Generationswechsel der Deutschen bei dieser Konstanz der Erfahrenen schwierig werden könnte, noch einmal unterstrichen. Hier darf vor lauter Freude über den Erfolg von Boll und Ovtcharov nicht vergessen werden, auch den Nachfolgern genügend Chancen zu geben, sich zu entwickeln. Über eines sollten wir uns nach diesem World Cup jedenfalls keine falschen Hoffnungen machen: Das Ergebnis gibt sicherlich Motivation für die Team-WM 2018 in Halmstad, China wird aber wie jedes Mal nach einer Niederlage gegen einen Nicht-Chinesen akribisch und mit absolutem Fokus daran arbeiten, dass dies kein zweites Mal passiert. Mein tischtennisfreies Wochenende habe ich daher sehr gerne unterbrochen - denn wer weiß, wann wir noch einmal etwas Ähnliches zu sehen bekommen werden?!

(JS)

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