Pro vs. Contra

Pro vs. Contra: Ist Zhang Jikes Strafe angemessen?

Lennart Wehking und Jan Lüke sind sich über Zhang Jikes Aktion und Bestrafung nicht ganz einig (©Fabig)

28.10.2014 - Zhang Jikes 'Umrandungskick' beim World Cup der Herren erhitzt die Gemüter. Dabei sind zwei Fragen zentral: Ist sein Verhalten entschuldbar und vielleicht sogar gut für unseren Sport? Und hat die ITTF den richtigen Weg eingeschlagen, als sie dem extrovertierten Weltmeister sein Preisgeld entzog? Lennart Wehking und Jan Lüke besprechen diese Fragen wieder einmal leidenschaftlich, lassen die Umrandungen dabei aber heil.

 

 

Pro: Jawohl, man wird doch wohl mal Emotionen zeigen dürfen! Wir sind ja schließlich beim Sport, da gehören Erregung und Aufregung dazu wie Gewinner und Verlierer. Der Mensch ist doch schließlich keine Maschine, eben. Und überhaupt: Wo sind denn die echten Typen geblieben, die es früher an jeder Ecke gegeben hat?! Nicht immer diese glattgebürsteten Musterprofis, die in der Stunde ihrer bittersten Niederlage oder ihres größten Triumphes das immer gleiche Schwiegermutters-Liebling-Gesicht aufsetzen, die keinen Gegner anpöbeln oder ihr Sportgerät in Stücke schlagen. Sport ist Business, Sport ist Job, Sport ist die bis ins Detail geplante Profession. Da wird man sich doch sehnen dürfen nach den John McEnroes, den Marcos Baghdatis‘ der Sportwelt – das waren noch echte Kerle. Aber jetzt hat das Warten ja ein Ende: Zhang Jike sei Dank.

 

Es wird nicht wenige geben, die das genau so sehen. Muss man aber nicht. Und ich persönlich sehe das nämlich ganz anders. Der weltbeste Tischtennisspieler der letzten fünf Jahre, der Weltmeister und Olympiasieger, die Speerspitze der vielleicht besten chinesischen Spielergeneration aller Zeiten, der Meister des Wettkampfs hat sich beim World Cup in Düsseldorf ordentlich daneben benommen. 

 

Natürlich muss ich auch sagen: Zhangs Auftritt ist kein Drama, er hat sich keinen unentschuldbaren Fauxpas geleistet. Sondern eben einen Ausrutscher, der vom Weltverband (ob mit Eigeninteresse bestückt oder nicht, sei dahingestellt) geahndet wurde. Damit hat sich’s! Mir geht es nicht darum, dass Zhang einen Imageschaden davonträgt, dass er in irgendeiner Weise gebrandmarkt wird für einige unbedachte Sekunden im Affekt und im Eifer des Gefechts. Denn natürlich gibt die Situation am Sonntag in Düsseldorf mildernde Umstände: In einer solchen sportlichen Ausnahmesituation produziert der Körper so viel Adrenalin, das manche Sportler schon mit den denkbar schlimmsten Verletzungen Wettkämpfe beendet haben. Dazu kommt bei Zhang der Druck von außen, die permanente Anspannung, sich in einem Kader der ausnahmslos weltbesten Spieler immer aufs Neue beweisen zu müssen und sich immer wiederkehrender Kritik auszusetzen. Während sich mancher Athlet schon jetzt seiner Olympia-Teilnahme 2016 in Rio de Janeiro sicher sein kann, kann sich das ausgerechnet der beste Spieler der Gegenwart nicht. Die eine oder andere vermeidbare Niederlage hier, das eine oder andere schwache Training da – und plötzlich werden die beiden Plätze für China an andere vergeben. All das sind Szenarien, die auch Zhang mal durchgespielt hat und die sich natürlich in einer solchen Situation entladen. Obendrein ist der amtierende Weltmeister allem Anschein nach und gerade im sportlichen Wettkampf ein extrovertierter und impulsiver Athlet, was er in der Vergangenheit wahlweise an seinem Trikot oder wie bei der WM 2013 mit einem Sprint auf die Tribüne ausgelassen hat. Was davon authentisch ist und was gekünstelte Inszenierung, weiß dabei wohl nur Zhang selbst – und soll in solchen Fällen auch nicht die Sorge anderer sein. 

 

All das ändert aber nichts daran, dass Zhang sich dieser Tage in Düsseldorf etwas geleistet hat, was er sich nicht hätte leisten sollen und dürfen. Es wäre deshalb falsch, das Geschehene zu bagatellisieren oder es – und da wird es dann in meinen Augen wirklich kritisch – gar zu glorifizieren. Das hat auch nichts mit dem langweiligen Saubermann-Bild des Tischtennissports zu tun, bei dem in der Sporthalle kein Zuschauer zu laut auf einen Keks beißen darf, ohne schief angeguckt zu werden. Stattdessen sind Zhangs Tritte von Düsseldorf einfach etwas, was ich in  keiner Sporthalle der Welt sehen muss. Und auch, wenn ich hier nicht allzu groß auf seiner Vorbildfunktion rumreiten möchte, weil das in jedweder Form ein abgedroschenes Thema ist, hat die Aktion bei vielen Zuschauern und vielen zuschauenden Kindern einen Eindruck hinterlassen. Ich finde, das sollte kein Eindruck sein, der zum Nachahmen anregt, sondern eher zum Abschrecken. Genauso im Übrigen wie ich einen schlechten Eindruck bei anderen hinterlasse oder Gefahr laufe, Probleme mit Recht und Gesetz zu bekommen, wenn ich fremdes Eigentum beschädige. Ob das Strafmaß wiederum gerechtfertigt ist oder nicht, ist dabei nicht einmal der Punkt. Es sollte lediglich ein Strafmaß geben, das bei Zhang wie eine Sanktion ankommt. Und da Zhangs nächster Sieg bei einem großen Turnier sicherlich kommen wird, denn sportlich ist er schließlich über jeden Zweifel erhaben: Zerrissene Trikots machen dann doch mehr her als zertretene Umrandungen. Die sind obendrein sogar auch noch Zhangs Eigentum. (Jan Lüke)

 
 

Contra: Herzlichen Glückwunsch, ITTF. Da wollte der Tischtennis-Weltverband wohl ein Exempel statuieren: Vom Siegerpreisgeld von sage und schreibe 45 000 Euro sieht der Gewinner des World Cups vom vergangenen Wochenende, Zhang Jike, nun also keinen Cent. Zu aggressiv, zu emotional, zu unbändig hatte der zuletzt oft gescholtene amtierende Olympiasieger und Weltmeister seinen nächsten großen Triumph gefeiert – in den Augen der ITTF-Offiziellen. Immerhin zwei rote Pappbanden mussten nach dem verwandelten Matchball in einem durchaus epischen Match auf allerhöchstem Niveau zwischen den beiden chinesischen Dauerrivalen, von denen wahrscheinlich nur einer das Olympia-Ticket lösen wird, dran glauben. Da kann man das für Tischtennisverhältnisse extrem hohe Preisgeld mal mir nichts, dir nichts komplett streichen? Nein, nein und nochmal nein!

 

Auch wenn Zhang sicherlich auch ohne das nette Sümmchen Siegesprämie nicht hungern wird müssen, die Sanktion des Weltverbands ist in meinen Augen vollkommen unverhältnismäßig. Ich würde sogar noch weiter gehen: Diese Strafe ist ein Witz und ein klassisches Eigentor in der Außendarstellung unserer Sportart. 

 

Ok, zugegeben: Die zwei Minuten Kontrollverlust Zhangs nach dem grandiosen Finalerfolg waren noch mal eine ganz andere Nummer des hemmungslosen Jubelns, als man sie von dem prägendsten Spieler unser Zeit ohnehin gewohnt ist. Die Kung-Fu-Tritte gegen zwei Boxumrandungen, die wilden Siegesschreie dazwischen und die schon fast zur Gewohnheit gewordene Präsentation des stählernen Oberkörpers, das war auch für mich persönlich zu viel des Guten. Das war entweder ein ganz geplanter, inszenierter Aggressionsabbau oder eben wirklich eine Kurzschlusshandlung, bei der sich über Monate aufgestauter Stress im totalen Affekt entladen hat. Man sollte nämlich nicht die Geschichte hinter diesem Triumph und der anschließenden, schon jetzt legendären Jubelarie vergessen: Mehrmals wurde Zhang, der auf dem besten Wege ist, sich seinen Platz in den Tischtennis-Annalen als erfolgreichster Spieler aller Zeiten zu sichern, öffentlich vom Cheftrainer Liu kritisiert: Er trainiere nicht gut genug, er sei nicht ganz bei der Sache. Mehrmals wurde in den internationalen Medien verbreitet, dass sich Zhang große Sorgen um sein Olympiaticket machen müsse. Mehrmals hatte der in der Weltrangliste hinter seinen Hauptkonkurrenten auf Rang vier platzierte Weltmeister zuletzt seinen Teamkameraden bei kleineren Events gratulieren müssen. Diese Umstände entschuldigen das Verhalten nicht, nein. Sie machen die Fehltritte aber doch ein wenig menschlicher, besonders bei einem so extrovertierten Athleten, der seinen individuellen Stil in einem System mit fast unmenschlichem Anspruch und Druck beibehalten hat.
 

Wie auch immer: So viele Emotionen kennt man in der häufig als lahm und trist angesehen Sportart kaum – und weiß scheinbar überhaupt nicht damit umzugehen. Natürlich muss man die zertretenen Banden thematisieren und ein solch rüpelhaftes und unsinniges, weil zu aggressives Verhalten, ahnden. Aber doch nicht mit Entzug des gesamten Preisgeldes, doch nicht mit dem Abzug des finanziellen Lohns einer monatelangen Vorbereitung. Nochmal: Zwei Pappbanden so dermaßen zu zertrümmern, ist nicht die feine chinesische Art. Ganz und gar nicht. Man braucht sich aber sowieso keinerlei Gedanken zu machen, dass der in der Heimat ohnedies schon als 'bad boy' gebrandmarkte Champion in China sein Fett wegbekommen wird. Eine solche unkontrollierte Reaktion gefällt weder Cheftrainer Liu, noch dem Heimtrainer des Heißsporns, der schon ankündigte, seinem Schützling in der Heimat Manieren beizubringen. Man darf davon ausgehen, dass der recht eigentümliche Weg des Druckabbaus in Düsseldorf Konsequenzen haben wird.
 

Besonders perplex zurückgelassen hat mich zudem die Art und Weise, wie der Weltverband mit dem drakonischen Strafmaß in der Öffentlichkeit umgeht: Überall wurden Bilder der wilden Kung-Fu-Aktion gestreut, das säuberlich geschnittene Video vom Ausraster wurde schnell zum absoluten Hit auf dem offiziellen ITTF-Youtube-Channel und liegt derzeit bei über 250 000 Aufrufen. Ganz nach dem Motto: bad news is good news. Das hat alles einen faden Beigeschmack: Die Emotionalität der Sportart promoten auf der einen Seite, den Athleten dann aber drastisch und vollkommen übertrieben rügen auf der anderen Seite. Das geht nicht. Nicht umsonst muss der Weltverband für dieses paradoxe Verhalten aktuell weltweit ziemlich viel einstecken von Aktiven und Fans. Und vom deutschen Bundestrainer, der auch in dieser heiklen Frage einmal mehr klar Stellung bezieht und das Strafmaß heftig kritisiert
 

Ich wünsche mir jedenfalls, dass Zhang Jike auch bei den nächsten großen Turnieren auflaufen darf und noch viele solcher unglaublichen (sportlichen!) Leistungen wie im Düsseldorfer Finale gegen Ma Long zeigt - denn bei all dem Theater Drumherum sollte man nicht vergessen: Der Typ ist echt ein Typ - und das vor allem am Tisch bei 9:9 im Entscheidungssatz. (Lennart Wehking)


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