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Dietmars Blog: Rollenwechsel im deutschen Lager

Im Damen-Doppel-Wettbewerb bei der EM gingen Gold (Winter/Silbereisen) und Silber (Shan/Solja) an Deutschland (©Fabig)

07.11.2016 - Große Titelkämpfe verlangen in aller Regel nach Bilanzen. Zwar taugt die EM aufgrund ihrer Nähe zu den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro nur mit einigen Einschränkungen als ein aussagekräftiger Gradmesser, doch als Standortbestimmung allemal. Für unseren Blogger Dietmar Kramer hat sich in Budapest ein bereits seit einiger Zeit anhaltender Trend bestätigt: Im deutschen Tischtennis vollzieht sich ein Rollenwechsel.

Formal betrachtet, ganz einer angestammten Regelung oder Gewohnheit folgend, formal betrachtet sind die Europameisterschaften in Budapest für das deutsche Tischtennis noch recht erfolgreich verlaufen. Zweimal erklang am Finaltag die deutsche Nationalhymne, insgesamt hing bei den Siegerehrungen auch viermal die schwarz-rot-goldene Flagge über dem Medaillenpodest, und die Nationenwertung wies den Deutschen Tischtennis-Bund (DTTB) am Ende einmal wieder als Nummer eins des Kontinents aus.

Alles prima also, ist man nach erstem Augenschein geneigt zu sagen, erst recht, wenn man die Einbrüche auch im DTTB-Team nach den Strapazen des Olympia-Jahres berücksichtigt: Denn anhand der Ergebnisse von Budapest lässt sich mit einiger Sicherheit ableiten, dass ein Dimitrij Ovtcharov ebenso wie Han Ying, Petrissa Solja und Shan Xiaona an der Donau gewiss weiter und mithin wohl auch mindestens auf das Podium gekommen wären, hätte der inzwischen geradezu unmenschlich anmutende Terminkalender den Topspielern nach dem Höhepunkt des Jahres bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro eine wenigstens einigermaßen angemessene Erholungsphase gegönnt. Kurz: Im Ernstfall wäre die Ausbeute der deutschen Aktiven vermutlich noch um einiges größer ausgefallen.

Zeichen der Zäsur: Kein Herren-Titel mehr alleine aus eigener Kraft
Doch genau wie eine Medaille kann eine Bilanz nach Großereignissen, auch wenn die Aussagekraft wie beim Beispiel Budapest nur als begrenzt anzusehen ist, immer auch zwei Seiten haben. Diese Kehrseite lässt im Herren-Bereich konstatieren, dass von der jahrelangen Dominanz in Europa seit dem EM-Triple von 2007 in Belgrad nicht mehr allzu viel übrig ist. Von den seinerzeit drei Titeln wird erstmals seit elf Jahren nicht mehr ein einziger aus eigener Kraft gehalten. Die bis vor noch nicht allzu langer Zeit viel gepriesene und von der kontinentalen Konkurrenz gefürchtete Breite bei den „Chinesen Europas“ ist – weitgehend zugegebenermaßen aus nicht vom DTTB zu verantwortenden Gründen – auf die beinahe schon „ewige Doppelspitze“ mit Ovtcharov und glücklicherweise wieder oder immer noch Timo Boll zusammengeschrumpft. An die Stelle von einstigen Top-20-Spielern wie den früheren Stützen Christian Süß und Patrick Baum ist bislang noch kein gleichwertiger Ersatz getreten.

Der welkende Lorbeer im zunehmend problembehafteten Herren-Team – Benedikt Dudas beherzter EM-Auftritt nimmt notorischen Schwarzsehern wenigstens etwas Wind aus den Segeln – hat im deutschen Tischtennis eine bemerkenswerte Entwicklung befördert: Langsam, fast sogar schon still und heimlich, schicken sich die DTTB-Damen im internen „Kampf der Geschlechter“ an, die Herren in Sachen Erfolge als Nummer eins abzulösen.

Damen 2016 immer erfolgreicher als die Herren
Das ausklingende Jahr jedenfalls kann beinahe exemplarisch für den sich vollziehenden Rollenwechsel angesehen werden. Bei der Mannschafts-WM in Kuala Lumpur sorgten die Spielerinnen von Jie Schöpp auch ohne ihre nicht spielberechtigten Asse Han und Shan für Furore und kratzten ganz im Gegensatz zu den auch ohne ihr Spitzenpersonal überfordert wirkenden Herren sogar an einer Medaille, standen in Rio mit Silber eine Stufe höher als Ovtcharov und Co. und holten nun in Budapest zum vierten Mal bei Europameisterschaften nacheinander wenigstens einen Titel. Dass es in Budapest im Einzel noch einmal mehr nicht zum großen Wurf gereicht hat, muss über die kurzfristige Enttäuschung hinaus insbesondere Petrissa Solja nicht übermäßig frustrieren: Auch eine Nicole Struse unternahm trotz voller Titelreife erst mehrere Anläufe vergeblich, ehe sie endlich doch 1996 Europas Thron besteigen konnte.

Generell spricht hinsichtlich der Perspektiven einiges für eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse: Während bei den Herren hinter dem Establishment künftige Anführer gar nicht und eine neue Generation eher nur schemenhaft zu erkennen sind, machen sich im Damen-Bereich unter ungleich schwierigeren Rahmenbedingungen einige Talente wie Nina Mittelham oder Chantal Mantz zunehmend einen Namen. Eine Fortsetzung dieser Entwicklung vorausgesetzt, sind die Aussichten spätestens für die inzwischen auch schon bedeutsam werdende Zeit nach dem Olympia-Zyklus bis zu den Sommerspielen 2020 in Tokio wenigstens vielversprechend.

Schöpps Personalpolitik macht sich doppelt bezahlt
Durch den Aufschwung scheint sich auch die vordergründig mutige, sportlich aber wohl auch alternativlose Entscheidung von Bundestrainerin Jie Schöpp zur konsequenten Nominierung der beiden chinesischstämmigen Weltklasse-Spielerinnen Han und Shan auszahlen. Gegen besonders anfangs nicht selten scharfe Kritik an ihrem Kurs setzte Schöpp auf das Duo – und bekommt ihr Vertrauen doppelt zurückgezahlt: Zum einen nämlich erweisen sich die „China Girls“ bei wichtigen Turnieren besonders in Mannschaftswettbewerben in aller Regel als vollauf verlässliche Team Player, zum anderen aber, und das mag sich erst in der Zukunft noch so richtig positiv auswirken, können von Solja über die Doppel-Europameisterinnen Kristin Silbereisen und Sabine Winter bis hin zu Mittelham und Mantz sämtliche Topspielerinnen von heute oder auch in spé von den beiden als ständige Trainingspartnerinnen profitieren. Han und Shan verkörpern jene Wunschvorstellung von Weltklasse-Sparring, dessen Umsetzung Schöpps Herren-Kollege Jörg Roßkopf bislang verwehrt geblieben ist.

Die Umkehrung der Hackordnung könnte nach Lage der Dinge auch noch über künftige Erfolge und Medaillenspiegel hinaus erfreuliche Effekte für den DTTB mit sich bringen: In den anstehenden Verhandlungen über die zuletzt viel diskutierte Reform der Spitzensportförderung stellt inzwischen eben auch der Damen-Bereich ein solches Maß an gefordertem Potenzial dar, dass darüber zumindest der Erhalt der insgesamt schon weitgehend optimalen Strukturen in der Spitze erhalten bleiben dürfte – und die Herren sich alsbald ihrerseits wieder an einen Rollenwechsel machen können.

(Dietmar Kramer)

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