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Dietmars Blog: Blick in die Zukunft trübt Rio-Party

Sind Timo Boll und Bastian Steger 2020 in Tokio noch dabei? (©ITTF)

22.08.2016 - Die Bilanz des deutschen Tischtennis bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro kann sich sehen lassen. Zwei Medaillen für die Mannschaften sind aller Ehren wert. Nicht zu vergessen die vorherige Wahl von Topstar Timo Boll zu Deutschlands Fahnenträger bei der Eröffnungsfeier. Aus Sicht unseres Bloggers Dietmar Kramer trübt allerdings der Blick in die Zukunft die vollauf berechtigte Freude über starke, wenngleich nicht optimale Ergebnisse an der Copacabana.

Die beiden Medaillen für die deutschen Tischtennis-Teams bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro sind ein herausragendes Ergebnis. Das Silber der Damen-Mannschaft glänzt dabei jedoch deutlich heller als die Bronzemedaille der Herren. Während Petrissa Solja und ihre Kolleginnen sogar über ihrer zuvor schon beinahe als schwindelerregend empfundenen Setzung als Nummer drei landeten, bedeutete die Halbfinal-Niederlage der deutschen Herren einen noch nicht einmal unerwarteten Dämpfer. Die unerfüllten Hoffnungen auf eine Einzelmedaille, vor allem durch Dimitrij Ovtcharov, müssen gar nicht als zusätzlicher Fingerzeig gewertet werden, um einen Zeitenwandel zu konstatieren: Nach Lage der Dinge sind die Zeiten des deutschen Herren-Teams als „best of the rest“ hinter China vorerst vorbei.

Zäsur trotz Medaillen-Doppelpacks

Wie viele Höhepunkte im Sport stellt auch der historische und deswegen höchst anerkennenswerte Medaillen-Doppelpack von Rio für das deutsche Tischtennis einen Wendepunkt, eine Zäsur dar. Von den Silver-Girls dürfte bis zu den nächsten Sommerspielen 2020 in Tokio Solja sicherlich nochmals eine weitere Entwicklung nehmen, doch erscheint mindestens fraglich, ob ihre immerhin schon 33 Jahre alten Kolleginnen Han Ying und Shan Xiaona in vier Jahren immer noch das Niveau erreichen können, das in Rio tatsächlich auch eine Medaille wert war. Aus den jüngeren Generationen jedoch rücken, nicht zuletzt auch aufgrund der im gesamten deutschen Sport schwierigen Strukturen für Leistungssportler außerhalb des Fußballs, bislang keine für die Zukunft als absolut gleichwertig anzusehenden Spielerinnen nach.

Ähnlich sieht die Situation bei den Herren aus. Ovtcharov war mit fast 28 Jahren schon der Benjamin in der Mannschaft von Bundestrainer Jörg Roßkopf, wird aber ohne Frage auch in Tokio noch zur absoluten Weltklasse gehören. EM-Rekordchampion Timo Boll indes mag, berauscht von seiner verdienten Wahl zu Deutschlands Fahnenträger und von seinem in der Tat heroischen Kampf im Spiel um Bronze gegen Südkorea, womöglich wirklich noch bis 2020 weitermachen (können), doch eine Bank wie in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten dürfte der frühere WM-Dritte mit dann 39 Jahren auch kaum noch sein, das deutete Rio mehr als an. Sein gleichaltriger Weggefährte Bastian Steger wird, trotz wie schon in London erneut solider und verlässlicher Auftritte, wohl nicht einmal selbst ernsthaft über eine weitere Olympia-Teilnahme nachdenken. Patrick Franziska als Spitzenmann der Post-Ovtcharov-Jahrgänge war zwar in Rio schon als Ersatz dabei, muss den Nachweis für dauerhafte Klasse aber auch erst noch erbringen. 

Olympia steht deswegen bei den Herren des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB) auch für eine recht bittere Einsicht: Die einstige Leistungsdichte in der Breite als langjährige Erfolgsgarantie ist zusammengeschmolzen. Dass Boll in Brasilien beklagte, zum ersten Mal seit langem auf Weltebene nicht das bestmögliche Ergebnis herausgeholt zu haben, entsprach womöglich schon eher noch der Gewohnheit als weiterhin den Realitäten.

Fragliche Perspektiven nach der Heim-WM 2017

Mithin schwebt mitten in der Euphorie über die beiden Olympia-Medaillen eine ernüchternde Erkenntnis wie ein Damokles-Schwert über dem deutschen Tischtennis: Spätestens nach dem WM-Heimspiel 2017 mit den Einzel-Titelkämpfen am Saisonende in Düsseldorf fehlt eine Perspektive wie noch 2012 nach den Sommerspielen von London. 

Für die Führung beim Deutschen Tischtennis-Bund (DTTB) ist nicht einmal bis Düsseldorf Zeit für eine Neuausrichtung: Schnellstens muss ein ansprechendes Konzept nicht nur mit Visionen, sondern auch mit realistischen Versprechen für die Zukunft über die beiden künftigen Leader Ovtcharov und Solja hinaus auf den Tisch. Denn für den DTTB steht viel auf dem Spiel: Bereits im Herbst wird die gesamte Spitzensportförderung neu geordnet, sollen Mittel des Bundes verstärkt zur Förderung von Chancen statt als Belohnung für schon erbrachte Leistungen verteilt werden. Immerhin kann der DTTB im bevorstehenden Verteilungskampf der Sportarten durch seine weitgehend tragfähigen und funktionierenden Strukturen punkten, doch alleine für das System dürfte das Füllhorn nicht über das Tischtennis ausgeschüttet werden. 

Bolls Fahnenträger-Wahl auch ein Zeugnis der verpassten Chancen

Olympia war aber nicht nur wegen der Medaillengewinne ein Erfolg für das deutsche Tischtennis. Bolls Wahl zum Fahnenträger hat einen kaum abschätzbaren Wert, weil die ehrenvolle Aufgabe anders als in der Vergangenheit nicht im stillen Kämmerlein von Funktionären, sondern von den Sportfans in Deutschland und den deutschen Olympia-Teilnehmern vergeben wurde. Mehr Anerkennung geht eigentlich nicht. 

Das Medienecho auf Bolls Kür dürfte allerdings vielen Fans und vielleicht auch manchen Machern des deutschen Tischtennis in den Ohren geklungen haben. Eben nicht nur dem Anschein nach verfügt der hiesige Tischtennis-Sport seit über eineinhalb Jahrzehnten über einen im ganzen Land geachteten und beliebten Topstar, der jedoch aufgrund von so manchen Versäumnissen im eigenen Lager bis Rio nur ein Nischen-Dasein fristete, fristen konnte. Bolls Wahl zum Fahnenträger, sprich: seine endlich einmal dokumentiert hohe Popularität vor allem in der breiten Bevölkerung und nicht nur bei Experten bedeutete deswegen auch ein Zeugnis über fatale Missachtung seines Potenzials als Zugnummer für den Tischtennis-Sport. Liebhabern des Sports stießen denn auch bei den TV-Reportagen über seine besondere Rolle als Fahnenträger die ständigen und wohl auch berechtigten Hinweise auf Bolls deutlich höheren Bekanntheitsgrad in China als in Deutschland, bei aller Freude über die Wertschätzung für diesen Ausnahmesportler, überaus bitter auf. Die augenscheinlich verpassten Chancen zur nachhaltigen Imagepflege gehören auch zu den Erkenntnissen von Rio. 

(Dietmar Kramer)

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