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Der Phasendrescher: Einlullen oder Vollgas in Satz eins?

Wer packt beim Stand von 0:0 seinen besten Aufschlag aus? (©Koch/Laven)

18.07.2016 - Nach Anfahrt, Einspielen, Seitenwahl und Co. steigt unser ‚Phasendrescher‘, alias Philipp Hell, in die erste Phase des Spiels ein, in der es wirklich um Punkte geht: den ersten Satz. Mit der ihm eigenen sarkastischen Art und Weise beschreibt er auch für diesen Spielabschnitt die Gedanken, die den beiden Akteuren am Tisch gemeinhin im Kopf herumspuken, und die typischen Szenen, die sich in vielen Amateursporthallen so oder so ähnlich abspielen.

Nach jeder Menge mehr oder weniger sinnvollem Vorgeplänkel sowie diversen physischen und psychischen Vorbereitungen ist es irgendwann so weit: Das Spiel beginnt. Da alles seine Ordnung haben muss in so einem Tischtennis-Match, beginnt es üblicherweise mit dem ersten Satz. Dieser wiederum wird in den meisten Fällen mit dem allerersten Ballwechsel eröffnet. Nun mögen viele Zelluloidspezialisten sich einfach an den Tisch stellen und loslegen. Die sportpsychologisch Ambitionierteren unter den Kreisliga-Spielern jedoch stehen einmal mehr vor einigen schwierigen Entscheidungen. 

Geheimwaffe auspacken oder zurückhalten?

Hat man den ersten Aufschlag, so stellt sich die große Frage, ob man gleich zu Beginn seinen besten Aufschlag auspackt, um den Gegner direkt einzuschüchtern. Schließlich ist es immer schön, das Spiel anschließend mit einem technisch anspruchsvollen Service-Winner zu eröffnen. Erstens liegt man gleich einmal selbstbewusst in Front, nahezu immer ein emotionaler Vorteil – und sei er noch so klein. Zweitens zeigt man dem Gegner umgehend, dass man technisch und taktisch sogar noch mehr zu bieten hat, als man während des Einspielens bereits angedeutet hatte. 

Andererseits jedoch bietet man seinem Kontrahenten so bereits frühzeitig die Möglichkeit, sich auf die guten Aufschläge einzustellen. Spätestens beim vierten Versuch wird er den etwas unkonventionellen und selbstverständlich verdeckt ausgeführten Seit-Unter-Überschnitt mit unangenehm langer Flugbahn dann doch entschlüsselt haben und in der Lage sein, ihn aggressiv über das Netz zurückzuspielen. Geht es schließlich in die „Do-or-Die“-Phase des Satzes oder später gar des ganzen Matches, so hat man sich einer möglichen Geheimwaffe bereits frühzeitig - und womöglich auch noch unnötigerweise - selbst beraubt. Als Überraschungseffekt bieten sich in so einem Fall oftmals nur noch Angabefehler an, leider nur selten zum eigenen Vorteil.

Offensiv-Feuerwerk oder Einlull-Taktik?

Für den Rückschläger beim ersten Ballwechsel bieten sich prinzipiell ebenfalls zwei konträre Möglichkeiten: gleich mal voll auf Attacke gehen und den allerersten Aufschlag direkt angreifen, koste es, was es wolle. Trifft man das Geschoss wie erhofft (und sei es nur durch Glück und auch nur mit dem Finger sowie der äußersten Schlägerkante) und punktet damit ebenso direkt wie spektakulär, so geben sich etwa 15% der Gegner innerlich sofort geschlagen – auch wenn sie es zu diesem Zeitpunkt selber noch gar nicht wissen. Doch selbst wenn der direkte Angriffsschlag meterweit an der Platte vorbeifliegt, so hat man den Aufschläger auf jeden Fall zumindest eingeschüchtert. Dieser weiß nun, dass er sich in diesem Match anschnallen müssen wird, vermutlich sogar warm anziehen, denn der Rückschläger wird höchstwahrscheinlich drei Sätze lang ein wahres Feuerwerk an Offensiv-Tischtennis abschießen. Dies ist bestimmt nicht jedermanns Sache, solange man nicht als „King of Block“ im Kreis berühmt-berüchtigt ist oder entweder die Ballonabwehr oder den hässlichen Slice zu seinen Hauptstärken zählt.

Um den Aufschläger hinterher etwas einzulullen, bietet es sich dem aggressiven Rückschläger an, die folgenden drei oder vier Bälle lediglich defensiv über das Netz zurückzueiern und ihn so in Sicherheit zu wiegen – bevor dann wieder ein brutaler Topspin-Ball ausgepackt wird, vor dem jeder festinstallierte Blitzer kapitulieren müsste. Diese Taktik funktioniert natürlich auch andersherum: Zunächst werden die ersten paar Ballwechsel schön zurückhaltend bestritten, ein bisschen kontern, ein bisschen Schnitt. Vielleicht macht der Gegenüber ja von sich aus viele Fehler, mal abwarten. Und wenn dieser sich darauf eingestellt hat, dass er hier in Ruhe abwarten kann bis ihm die Bälle früher oder später auf Nasenspitzenhöhe zur Attacke präsentiert werden, dann überrascht man ihn gnadenlos mit willkürlichen Attacken direkt auf den Aufschlag. Zumindest falls man inzwischen die Angabe des Gegners lesen kann und auch technisch dazu in der Lage ist, den immer wieder verzweifelt von der Seite reingerufenen Hinweis „Zieh doch das Ding einfach an!“ umzusetzen.

Im ersten Satz wäre mehr drin gewesen!

Nach zwei Dritteln des ersten Satzes hat sich der Durchschnittsspieler normalerweise einen gerade noch überschaubaren Zwei- oder Drei-Punkte-Rückstand eingehandelt. Nun gilt es abzuwägen: Weiterhin den Gegner genauestens beobachten und selber als Test ein paar taktische Sperenzchen einstreuen und damit das Risiko des mehr oder weniger gegenwehrlosen Verlustes des ersten Satzes eingehen? Oder aber plötzlich und unvermittelt in den 120%-Modus schalten und die gemeinen Aufschläge, die tödlichen Topspins, die scharfen Unterschnitt-Bälle sowie erste Mätzchen und Psychotricks auspacken, immer in der Gefahr, dem Gegner frühzeitig einen Blick in die eigenen Karten zu gewähren? Zumeist entscheidet man sich für ein undefiniertes Mittelding, welches überwiegend schief läuft und nach der feststehenden Drei-Satz-Pleite zu der beinahe immer richtigen Analyse führt, dass zumindest im ersten Satz aber mehr drin gewesen wäre.

So oder so ist der erste Durchgang zum Ausprobieren da: Man schaut sich in Ruhe an, was der Gegner überhaupt zu bieten hat, versucht dessen Aufschläge sowie Stärke und Richtung des Schnittes zu lesen, attackiert einige schöne Bälle und gockelt nach spektakulären Punktgewinnen aufgeplustert und mit Beckerfaust an der Platte herum. Kurz, man prüft den Gegner ebenso wie sich selbst und versucht sich dabei einen sowohl spielerischen als auch psychologischen Vorteil zu verschaffen: nämlich eine 1:0-Satzführung, ganz genau.

(Philipp Hell)

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