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Blog: "Borussia Deutschland" muss sich neu erfinden

Personelle Veränderungen wird es kommende Saison bei Borussia Düsseldorf geben (©Roscher)

08.02.2016 - Ausgerechnet für das Aushängeschild des deutschen Tischtennis auf Mannschafts-Ebene ist der ausklingende Winter eine mühselige Zeit gewesen. Bundesliga-Branchenführer Borussia Düsseldorf ist durch den Abgang von Nachwuchshoffnung Patrick Franziska zu einer drastischen Neuausrichtung seiner Personalplanung gezwungen worden. Unser Blogger Dietmar Kramer hat sich zu den jüngsten Entwicklungen beim Rekordmeister Gedanken gemacht.

Es mag überraschend klingen: Patrick Franziska hinterlässt bei Borussia Düsseldorf Spuren. Nach seinem für Außenstehende weiterhin nicht wirklich nachvollziehbaren Wechsel zur neuen Saison zum 1. FC Saarbrücken-TT wird die Nachwuchshoffnung allerdings anders als namhafte Größen in der Vergangenheit nicht mit einer außerordentlich erfolgreichen Ära der Rheinländer in Verbindung gebracht werden, sondern als Auslöser einer vorzeitigen und vor allem unerwünschten Zäsur. Mehr noch: Franziskas Entscheidung hat die Borussen zumindest vorübergehend zu einem wahrhaftigen Paradigmen-Wechsel gezwungen. Denn Düsseldorf wird in der kommenden Spielzeit trotz seines über Jahrzehnte gelebten Anspruchs als Förderer des heimischen Tischtennis nur noch einen Spieler mit deutschem Pass in seinem Aufgebot melden. 

Zeiten von „Borussia Deutschland“ vorerst vorbei

Für Borussia-Verhältnisse ist besonders die Reduzierung des Anteils deutscher Spieler auf künftig nur noch Timo Boll ein tiefer Einschnitt mit tatsächlich vereinshistorischem Ausmaß. In der vor nur wenig mehr als 20 Jahren angebrochenen Post-Bosman-Ära, in der die Beschränkungen für den Einsatz ausländischer Spieler praktisch weggefallen ist, hatte der Branchenführer lediglich nur zwischen 1998 und 2000 in zwei Spielzeiten mit Jörg Roßkopf und noch einmal in der Saison 2006/07 mit Christian Süß lediglich einen Deutschen im Aufgebot. Ansonsten gehörten immer wenigstens zwei deutsche Aktive zur überwiegend auch stets erfolgreichen Mannschaft des Branchenführers. 

Wertvollste Bestätigung für das Selbstverständnis des Vereins auch als „Zulieferbetrieb“ für die deutsche Nationalmannschaft ist bis heute die Silbermedaille für die Herren des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB) bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking mit dem Düsseldorfer Trio Boll, Süß und Dimitrij Ovtcharov. Der damals entstandene Beiname „Borussia Deutschland“ für das DTTB-Team war mehr als nur eine Schmeichelei für die Düsseldorfer Macher, sondern beschrieb vielmehr die Bedeutung der täglichen Arbeit im Klub eben auch über den eigenen Erfolg hinaus auf ausgesprochen ehrenvolle Weise.

Verjüngungskur erster Schritt für Runderneuerung

Doch das war einmal. Zwangsläufig hat Düsseldorf sich kurzfristig zum Erhalt zunächst einmal seiner eigenen Ansprüche geradezu in Windeseile neu aufgestellt. Die Verpflichtungen von Österreichs EM-Star Stefan Fegerl sowie des Schweden-Duos mit Favoritenschreck Kristian Karlsson und Toptalent Anton Källberg lassen die Borussia zusammen mit der Vertragsverlängerung des indischen Routiniers Sharath Kamal Achanta auch für die nächste Saison national durchaus wieder als Maßstab für die Konkurrenz erscheinen, und auch in der prestigeträchtigen Champions League sollte das deutsche Aushängeschild wieder alles andere als nur ein Mitläufer sein. Einmal am Werk, verbanden die Düsseldorfer Macher den Umbau ihrer Mannschaft denn auch gleich mit einer kleinen Verjüngungskur: Das Durchschnittsalter des Teams sinkt deutlich auf knapp über 27 Jahre, nachdem die momentane Mannschaft jenseits der 30-Jahre-Grenze liegt.

Die auf den ersten Blick ansprechende Zusammenstellung einer charakterlich vielversprechenden Truppe mit Schlagkraft und Potenzial gleichermaßen hat der Düsseldorfer Führung außerdem Zeit verschafft. Zeit, um die bisherige Konzeption, in der Franziska in nur noch wenigen Jahren zweifellos für Bolls Nachfolge in der Leader-Rolle vorgesehen war, den neuen Gegebenheiten anzupassen, oder besser gesagt: um die Borussia quasi wieder einmal neu zu erfinden.

Zäsur weckt Erinnerungen an Gründung der „Boy Group“

Diese Situation ist für den Liga-Primus vor dem Hintergrund der Kooperation mit dem vor Ort angesiedelten Deutschen Tischtennis-Zentrum einerseits neu, nicht zuletzt auch weil Franziska ungeachtet seines Drangs nach mehr Eigenständigkeit weiter die optimalen Bedingungen in der NRW-Metropole für sich zu nutzen gedenkt. Die Herausforderung ist andererseits für die Borussen nicht unbekannt: Besonders 2000 nach dem gleichzeitigen Abschied von Vereinslegende Roßkopf und Topspieler Vladimir Samsonov musste Düsseldorfs Management sich beim erforderlichen Umbruch völlig neu orientieren, machte aus der Not eine wahrhaftige Tugend, setzte praktisch komplett auf junge Spieler wie Süß und meldete sich mit seiner damaligen „Boy Group“ nur drei Jahre später wieder in der Spitze zurück. 

Feststehen dürfte, dass die Borussia als „Bayern München des Tischtennis“ im Sinne ihres eigenen Anspruchs in absehbarer Zeit schon wieder die Weichen für eine neue Ära mit „Local heroes“, sprich: deutschen Spielern, mit denen sich die Fans dauerhaft identifizieren können, stellen wollen wird. Vereinzelt zeichnen sich dafür auch Optionen ab, doch ist der Markt so begrenzt, dass anstelle der ursprünglichen Linie vorübergehend durchaus auch der nunmehr schon eingeschlagene Weg weiter verfolgt werden könnte. Es wäre gleichwohl verständlich, lässt das Profisport-Business für idealistische Ziele doch heutzutage - anders als etwa 2000 noch - kaum mehr Raum.

Boll als Konstante eine Stütze

Wiederum anders als 2000 muss Düsseldorf jedoch nicht bei null anfangen, sondern kann sich der erfolgsgewohnte Klub ein Stück weit auf eine Konstante stützen: Boll. Der Vertrag des Rekord-Europameisters läuft erst einmal noch bis 2018, und nach dem WM-Heimspiel 2017 in Düsseldorf wäre wenigstens vorstellbar, dass Boll die seit Jahren zugunsten seiner internationalen Ambitionen limitierte Zahl von Einsätzen für die Borussia auch als Zeichen des Dankes noch einmal erhöht. Im "Windschatten" des Idols könnten junge Talente lernen, reifen und mit einem überschaubaren Maß an Druck an höhere Aufgaben herangeführt werden. Es gäbe für Boll jedenfalls wahrlich unattraktivere Optionen für den Ausklang seiner Bundesliga-Karriere als die Übernahme der Rolle einer „Vaterfigur“ für die nächste Borussen-Generation. 

Man darf gespannt sein, wie sich in einiger Zeit die „neue Borussia“ präsentieren und welches Gesicht die Mannschaft haben wird. Alles andere als eine höchstens modifizierte Fortführung von Düsseldorfs jahrelanger Vereinsphilosophie wäre jedoch eine große Überraschung.

(Dietmar Kramer)

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