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Jans Blog: Totgeglaubte leben länger

Das 'moderne' Abwehrspiel eines Joao Saehyuk ist inzwischen ein alter Hut (©Fabig)

18.02.2019 - Wenn man sich die Weltspitze so anschaut, bekommt man nicht gerade den Eindruck, dass Abwehrspieler auf dem Vormarsch sind. Vor allem bei den Herren könnte man sie auch als aussterbende Art bezeichnen. Unser freier Redakteur Jan Lüke glaubt dagegen nicht daran, dass das Abwehrspiel ausstirbt. In seinem Blog gibt er Gründe für das Überleben dieses Spielsystems und sieht durchaus gute Chancen für künftige Abwehrgenerationen.

Es ist fast 16 Jahre her, als die bisher letzte Renaissance des Abwehrspiels ihren Höhepunkt erlebte. Das WM-Finale von 2003 in Paris ist der Tischtennis-Community nicht nur deshalb in guter Erinnerung, weil mit Werner Schlager letztmals ein Europäer Weltmeister wurde. Es war auch deshalb ein historisches Endspiel, weil es damals zuletzt das Duell Angriff gegen Abwehr in einem bedeutenden internationalen Finale gegeben hat. Der Südkoreaner Joo Saehyuk verlor zwar gegen Schlager, aber er galt nach seinem spektakulären Turnier von Paris als Prototyp des Spielstils, den man über viele Jahre „moderne Abwehr“ nannte. Joo wehrte mit der Rückhand ab und griff mit der Vorhand überwiegend an. Das war ansehnlich und über viele Jahre ziemlich erfolgreich.

Eine aussterbende Art?

In den vergangenen Jahren sind Erfolge von Abwehrspielern seltener geworden. Zwar fanden und finden sich mit Ruwen Filus, Panagiotis Gionis, dem Japaner Yuto Muramatsu oder dem B-Kader-Chinesen Ma Te noch immer Defensivspieler in der erweiterten Weltspitze. Aber bei Turnieren von allergrößter Bedeutung wie Weltmeisterschaften, Olympischen Spielen oder den World-Tour-Events scheint es mittlerweile nahezu ausgeschlossen, dass sich Abwehrspieler in die Medaillenränge spielen. 

Für viele ist das Abwehrspiel tot oder zumindest im Begriff auszusterben, zumal die Umstellung vom Zelluloidball auf den rotationsärmeren Plastikball Abwehrern einen weiteren Nachteil einhandelte. Regeländerungen haben dazu beigetragen, dass es für Abwehrspieler schwieriger wurde. Schnitt und Schnittwechsel waren seit jeher das Kerngeschäft von Defensivspielern, auch von jenen, die später selbst viel angriffen. Während auf der einen Seite der Schnitt fehlt, bekommen die Topspieler auf der anderen Seite immer mehr Schlaghärte. Das Ergebnis ist bekannt: Abwehrspielern scheinen die Waffen zu fehlen, um ein bestimmtes Niveau zu überschreiten. Die Defensivspieler werden weniger, ihre Erfolge seltener.

Und trotzdem bin ich mir sicher: Das Defensivspiel steckt zwar in der Krise, aber es steht nicht vor dem Ende. Es gibt gute Gründe, dass das Abwehrspiel zurückkommen wird.

Neue Chancen der Abwehrer

Zum einen erfährt jeder Trend eine Gegenbewegung. Zwar wird das Spiel derzeit immer schneller und ist in der jüngeren Vergangenheit durch Spieler wie Fan Zhendong und Tomokazu Harimoto auch noch mal tischnäher geworden, aber viele Athleten der jüngeren Spielergenerationen haben in ihrer sportlichen Ausbildung kaum noch Berührungspunkte mit Abwehrspielern gehabt. Das wird auf Zeit die Folge haben, dass sie sich gegen Defensivspiel wieder schwerer tun werden. Techniken, die daraus ausgelegt sind, sehr nah am Tisch und mit extrem frühem Treffpunkt auf offensive Schläge zu antworten, werden anfälliger gegen anderes Tempo und andere Rotation. In ihrer Krise besteht für Abwehrspieler auch eine Chance.

Zum anderen ist die schlechte Entwicklung auch ein Appell an Abwehrspieler und ihre Trainer, sich wieder etwas einfallen zu lassen. Keine Frage, Regeländerungen haben Abwehrspieler zuletzt überproportional benachteiligt. Allerdings hat sich das Abwehrspiel in den vergangenen Jahren und sogar Jahrzehnten auch verhältnismäßig wenig weiterentwickelt. Das vermeintlich „moderne Abwehrspiel“ aus der Ära Joo Saehyuk ist noch immer state of the art: Seit der Jahrtausendwende beinhaltet es das Jobprofil eines Abwehrspielers, dass er mindestens auf einer Seite so gut angreift wie ein Offensivspieler. Aus dem Überraschungsmoment, das Abwehrspieler keine reinen Gummiwände mehr waren, die ihre Gegner zermürben, sondern plötzlich selbst druckvoll spielen konnten, wurde über die Jahre Berechenbarkeit. Zwar muss es nicht mehr zwingend die Vorhandseite sein, mit der Abwehrspieler in die Offensive gehen. Das hat der progressive Spielstil von Ruwen Filus gezeigt, der vor allem die Rückhand zum Topspin-Endschlag nutzt. Doch gemessen daran, dass sich Abwehrspieler in einem anhaltenden Abwärtstrend befinden und sich eigentlich besonders viel einfallen lassen müssen, hat sich verhältnismäßig wenig getan. Das Offensivtischtennis ist hingegen nicht mehr mit dem von vor 20 Jahren zu vergleichen, als die Banane noch ausschließlich Sportlernahrung war. 

Neuer Abwehrtyp gesucht

Welche konkreten spielerischen Ideen das Abwehrspiel retten könnten? Das muss man auf einen Versuch ankommen lassen. Vielleicht wieder mehr Vorhand-Abwehr? Vielleicht Variationen mit mehr Seitschnitt oder sogar Überschnitt? Vielleicht wechselnde Distanzen zum Tisch? Denkbar ist vieles. Fest steht aber: Die Grundlagen für einen neuen Typ von Abwehrspielern müssen schon in der Ausbildung gelegt werden. Fertige Spieler in der erweiterten Weltklasse werden ihre Systeme nur noch minimal verändern können. Kreativität und das Experimentieren mit neuen Spielideen sollten deshalb vor allem im Nachwuchs stattfinden. Wir sehen gerade bei Truls Moregardh, dass auch Angriffsspieler dafür belohnt werden, wenn sie ein Spielsystem finden, welches Neues und Unvorhersehbares auffährt.

Womöglich könnte der Ansatzpunkt auch ein anderer sein, nämlich die Zusammenarbeit mit der Industrie. Die Materialentwicklung hat sich in den vergangenen Jahren vor allem auf das Offensivspiel konzentriert. Angreifern wurden immer katapultigere Beläge und immer schnellere Hölzer mit immer neuen Kunstfasern in die Hände gedrückt, die schon bald alle Bemühungen der Verbände zunichtemachten, das Spiel durch Regeländerungen zu verlangsamen. In die Entwicklung von Material für die Defensive, seien es Antitops, kurze oder lange Noppen oder auch griffige Noppen-innen-Gummis, wurde vergleichsweise wenig Arbeit gesteckt. Der Impuls, das zu ändern, könnte auch von den Spielern selbst ausgehen. Die Frage, wie ein erfolgreiches Abwehrspiel der Zukunft aussehen könnte, ist auch mit der Frage verbunden, was für ein Material man dafür brauchen könnte.

Das Abwehrspiel ist nicht tot. Es könnte sogar davon profitieren, dass viele es für tot halten. Mich jedenfalls würde es freuen, schon bald den nächsten Joo Saehyuk zu sehen. 

(Jan Lüke)

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